In dem unendlichen Parallelogramm der Kräfte und Motive, die zum Nazi-Regime geführt haben, gibt es verborgene Linien die zeigen: Böse politische Entwicklungen werden schrecklicher, wenn man sie genauer erklärt. Wie das nationalsozialistische Leben dort, wo es nicht um Hochfinanz und Militär ging, ideologisierend in den Alltag eindrang, wird in den großen geschichtlichen und politischen Abrechnungen leicht übersehen, kann vielleicht überhaupt nur erzählend reflektiert werden. Wenn das nun aus der Perspektive eines sehr jungen Menschen geschieht - eingebettet in die Zufälligkeiten seines Aufwachsens - mag der Leser die Wahrheit bezweifeln, sowohl des Erlebten wie seiner Darstellung. Wählt diese, wie im vorliegenden Text, die Sprache des Erwachsenen, wächst das Misstrauen. Aber hier gilt, was Peter Weiss gesagt hat: "Ich spreche Dinge aus, die ich mir erarbeitet habe, das Ich hat sich verschoben, was damals angelegt war, wird jetzt ausgeführt, aber alle Details sind authentisch." Bis heute hat jene Generation ja weitgehend geschwiegen, die in Krieg und Politik nicht noch ernsthaft verwickelt werden konnte, deren Fähigkeit aber, Nahes und auch Fernes auf diesem Gebiet schon wahrzunehmen und mitzuerleben, begünstigt (oder, wenn man will, beschädigt) war durch eine den Zeitläufen gemäße, früh entstandene Empfindsamkeit. Sie knüpft sich an in Familien und andere private oder vom Privaten dominierte Verhältnisse reichende politische Einflüsse. Sie werden vom Großräumig-Spektakulärem nach wie vor verdeckt, und spielten doch einen schwer zu definierenden aktiven Part. Sie waren heimliche Grundlage, offener Anspruch, aber auch zähes, nie richtig registriertes Hemmnis, repräsentiert durch Eindrücke aus früher Jugend, die - überall hin dringende - totalitäre Regime hinterlassen. So wird aus diesem Buch - lange Perioden akademischen Lebens geisterhaft überspringend - eine politische Erzählung am Rande der Kindheit. Klaus Lüderssen, geb. 1932, ist seit 1971 Professor an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Seine Interessen konzentrieren sich gegenwärtig vor allem auf Grundfragen der Kriminalpolitik, wissenschaftstheoretische Probleme strafrechtsgeschichtlicher und rechtsphilosophischer Forschung; Wirtschaftsstrafrecht; Recht und Literatur.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Walter Hinck weiß den Rechtswissenschaftler Klaus Lüderssen nicht nur für seine Brückenschläge zwischen Recht und Literatur zu schätzen, dessen jetzt vorgelegte Autobiografie ist für den Rezensenten selbst ein "veritables Stück Literatur". Beeindruckt zeigt sich der Kritiker nicht nur von der ambitionierten Erzählweise der Erinnerungen, die Vergangenheit stets von einem späteren Punkt aus reflektieren. Überraschenderweise blieben die Erinnerungen dennoch sehr anschaulich und, wie Hink meint, durch die gebrochene und durchaus problematisierte Erzählperspektive besonders authentisch. Fasziniert hat er von den Erfahrungen einer "relativen Gesetzlosigkeit" der frühen Nachkriegszeit gelesen, und sieht davon die späteren Rechtspositionen des Autors durchaus geprägt. Das Dilemma der Darstellung der späteren Jahre, die in Memoiren häufig in einen mit blasser Erlebnisgeschichte durchdrungenen Bericht des beruflichen Werdegangs ausartet, umgeht Lüderssen durchaus kühn, indem er sich gleich auf sein "akademisches Leben" konzentriert, stellt Hinck fest. Deutlich mache der Autor auch immer wieder seine "Skepsis" gegenüber der Authentizität der Erinnerung, was für den faszinierten Rezensenten zu einem "selten erreichten Niveau zeitgenössischer Autobiografien" führt, wie er preist.
© Perlentaucher Medien GmbH
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