Die Medizinverbrechen der Nazis waren nicht das Ergebnis der Verfehlungen Einzelner, sondern der extreme Endpunkt des Glaubens an ärztliche und naturwissenschaftliche Objektivität mit dieser kontroversen These handelte sich Alexander Mitscherlich nicht nur Widerspruch des medizinischen Mainstreams seiner Zeit ein, sondern legte auch den Grundstein einer verstehenden, menschlichen Medizin, die Krankheit als Ergebnis nicht nur organischer, sondern auch lebensgeschichtlicher und sozialer Ursachen begreift. Denn ein kranker Mensch ist mehr als ein defekter Organismus. Der vorliegende Band versammelt und ordnet seine zentralen Texte zur Menschlichkeit in der Medizin.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.02.2010Im Wartezimmer
Alexander Mitscherlich war nicht nur der Verfasser aufsehenerregender sozialpsychologischer Studien, sondern auch medizinischer, bis heute nicht veralteter Schriften. Eine lesenswerte Auswahl findet sich in dem Band "Krankheit verstehen", der als "Lesebuch" herausgegeben wird. Freuds Konversionstheorie aufgreifend, hat Mitscherlich eine materialreiche Theorie chronischer Krankheitsbildung entworfen. In dem Lesebuch abgedruckt ist der wegweisende Aufsatz "Bedingungen der Chronifizierung psychosomatischer Krankheiten", den Mitscherlich 1967 für den zweiten Band von "Krankheit als Konflikt" geschrieben hatte. Hier erörtert er anhand etlicher Beispiele seine Zweistadientheorie der Verstetigung von Krankheiten: Demnach verlagert sich der Schauplatz der Trieb- und Konfliktbewältigung unter bestimmten, von Mitscherlich dramatisch beschriebenen Bedingungen von der Psyche auf das Körperliche. In einer buchstäblichen "Notlösung" wird aus dem Neurotiker beispielsweise ein Asthmatiker. Mitscherlich ruft zur Überwindung einer reinen "Reparaturmedizin" auf, die das anspruchsvolle Geschäft der Ursachenerhellung zugunsten der schnellen Symptombehandlung vernachlässigt. Mit essayistischer Eleganz werden zentrale Probleme des Medizinbetriebs erörtert, die der Leser von heute in verschärfter Form erfährt. Die Lektüre befähigt ihn, auf krank machende Fehlentwicklungen im Gesundheitssystem, aber auch in der persönlichen Biographie aufmerksam zu werden. Das Buch gehört in jedes Wartezimmer. (Alexander Mitscherlich: "Kranksein verstehen". Ein Lesebuch. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2010. 333 S., br., 10,- [Euro].) gey
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Alexander Mitscherlich war nicht nur der Verfasser aufsehenerregender sozialpsychologischer Studien, sondern auch medizinischer, bis heute nicht veralteter Schriften. Eine lesenswerte Auswahl findet sich in dem Band "Krankheit verstehen", der als "Lesebuch" herausgegeben wird. Freuds Konversionstheorie aufgreifend, hat Mitscherlich eine materialreiche Theorie chronischer Krankheitsbildung entworfen. In dem Lesebuch abgedruckt ist der wegweisende Aufsatz "Bedingungen der Chronifizierung psychosomatischer Krankheiten", den Mitscherlich 1967 für den zweiten Band von "Krankheit als Konflikt" geschrieben hatte. Hier erörtert er anhand etlicher Beispiele seine Zweistadientheorie der Verstetigung von Krankheiten: Demnach verlagert sich der Schauplatz der Trieb- und Konfliktbewältigung unter bestimmten, von Mitscherlich dramatisch beschriebenen Bedingungen von der Psyche auf das Körperliche. In einer buchstäblichen "Notlösung" wird aus dem Neurotiker beispielsweise ein Asthmatiker. Mitscherlich ruft zur Überwindung einer reinen "Reparaturmedizin" auf, die das anspruchsvolle Geschäft der Ursachenerhellung zugunsten der schnellen Symptombehandlung vernachlässigt. Mit essayistischer Eleganz werden zentrale Probleme des Medizinbetriebs erörtert, die der Leser von heute in verschärfter Form erfährt. Die Lektüre befähigt ihn, auf krank machende Fehlentwicklungen im Gesundheitssystem, aber auch in der persönlichen Biographie aufmerksam zu werden. Das Buch gehört in jedes Wartezimmer. (Alexander Mitscherlich: "Kranksein verstehen". Ein Lesebuch. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2010. 333 S., br., 10,- [Euro].) gey
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