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Produktdetails
  • Verlag: Editions de Fallois
  • Seitenzahl: 188
  • Erscheinungstermin: Oktober 2019
  • Französisch
  • Abmessung: 203mm x 143mm x 15mm
  • Gewicht: 242g
  • ISBN-13: 9791032102299
  • Artikelnr.: 57897401
  • Herstellerkennzeichnung
  • Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.10.2019

Ganz er selbst, auch schon in jungen Jahren

In Frankreich ist ein Band mit bislang unveröffentlichten Texten von Marcel Proust erschienen.

Der literarische Herbst in Paris begann dieses Jahr mit großem Trubel um einen mysteriösen Roman: Er wurde in schwindelerregend hoher Auflage gedruckt und entpuppte sich nach viel Rätselraten als ein Werk von Françoise Sagan - das weder ganz von ihr war noch überzeugen konnte (F.A.Z. vom 29. September). Darüber ging der Fund aus dem Nachlass eines anderen, weit bedeutenderen modernen Klassikers fast unter, der weniger spektakulär daherkam und verhältnismäßig bescheiden beworben wurde: Es handelt sich um neun Erzählungen von Marcel Proust (1871 bis 1922) aus den neunziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts. Die Überraschung war groß, weil von acht dieser Texte nicht einmal die Existenz bekannt war.

Die Erzählungen sind Satelliten aus dem Gravitationsfeld von "Freuden und Tage" (1896), dem ersten Buch des jungen Autors, das Veröffentlichungen aus Zeitschriften zusammenfasste und durch neue Kompositionen ergänzte. Um Letztere handelt es sich bei den nun publizierten Texten, die bisher (mit eben einer Ausnahme) nur in Manuskriptform vorlagen. Meist sind sie unvollendet, dennoch zeichnen sich wichtige Mechanismen, zentrale Motive, treffende Formeln der "Suche nach der verlorenen Zeit" (1913 bis 1927) in ihnen ab; man liest sie und die kundigen Ausführungen des Herausgebers mit großem Gewinn und stiller Freude.

Typisch ist gleich die Novelle "Pauline de S.": Der Erzähler besucht eine Sterbenskranke und erwartet, sie quasi im Büßerhemd, ganz dem Jenseits zugekehrt anzutreffen. Stattdessen präsentiert sich ihm eine zwar blasse, aber ungebrochen lebenshungrige Mondäne, die ihre "conversation brillante" pflegt und ein amüsantes Stück des Vaudeville-Autors Eugène Labiche sehen möchte. In gut der Hälfte der Erzählungen wird die Situation - oft tödlicher - Krankheit gewählt, die für das Fin de Siècle einschlägig ist; in "Freuden und Tage" finden sich weitere Beispiele, etwa "Der Tod des Baldassare Silvande". Die Situation ist Prousts Lackmustest, um die wahre Natur des Menschen zu zeigen. Die Opposition zwischen zeitfressendem Gesellschaftsleben und zeitfindender Kunst, die für die "Suche nach der verlorenen Zeit" grundlegend sein wird, zeigt sich hier als die traditionelle Opposition von weltlicher Zerstreuung und christlicher Einkehr, so, wie sie der französische Moralismus des siebzehnten Jahrhunderts kodifiziert hat; dieser christliche Strang ist präsenter als in "Freuden und Tage".

Es liegt nahe, den Band als Labor zu begreifen, und das Vorgehen des Autors als "Experimentieren". Tatsächlich probiert der junge Autor viele Formen aus, sei es das Märchen, die Parabel oder das Totengespräch, und wechselt souverän die Stilregister. Ob naturwissenschaftliche Begriffe es treffen, ist weniger sicher: Proust verstärkt zeittypische Stil- und Formmischungen, brilliert mitunter darin, etwa wenn "Après la 8e symphonie de Beethoven" (Nach Beethovens achter Symphonie) den Leser in eine mystisch-sinnliche Begeisterung hineinzieht, die jedoch nicht die eines Liebenden ist, sondern sich, so die finale Pointe, als leidenschaftliche Musikverehrung entpuppt. Zugleich aber höhlt Proust Denk- und Stilmuster aus, prägt sie um, entwickelt sie neu. Es ist eher eine Arbeit in der Materie als ein Hantieren mit Stoffen: Proust denkt und schreibt sich seinen Weg aus der Fülle heraus, sortiert, sondert aus, justiert anders - noch ohne konkretes Ziel. Am Ende sind viele Werte ent- oder umgewertet, etwa die christlichen Topoi.

Ein großes Thema des Werks, die Homosexualität, dominiert, etwa in der Titelnovelle "Le mystérieux correspondant" (Der geheimnisvolle Briefschreiber). Es ist eigentlich eine Schreiberin, das aber weiß die Adressatin nicht: Brüsk weist sie das anonyme Werben zurück und wundert sich über das unerklärliche Leiden ihrer Freundin. In zwei weiteren Erzählungen ist Homosexualität zentral - was sicherlich erklärt, warum sie nicht aufgenommen wurden: Weder ein Skandal noch eine starke thematische Ausrichtung der Sammlung dürften in Prousts Sinn gewesen sein. Interessant ist das Wechselspiel von Zeigen und Verbergen, das hier beginnt und in der "Suche nach der verlorenen Zeit" zu einem raffinierten Arrangement entwickelt werden wird. "Der geheimnisvolle Briefschreiber" verwendet eine durchsichtige Camouflage, indem die gleichgeschlechtliche Zuneigung zwischen Frauen steht. Da wirkt der in einen Brigadier verliebte Hauptmann von "Souvenir d'un capitaine" (Erinnerung eines Hauptmanns), also Männerliebe in Ich-Form, unverhofft direkt, auch wenn den Erzähler seine Gefühle verwirren. Es handelt sich um die einzige publizierte Novelle: "Le Figaro" hatte sie 1952 zum dreißigsten Todestag gedruckt - das überrascht. Weniger gilt das für die Erinnerungsthematik.

Die Erzählungen sowie die Dokumente des Anhangs stammen aus dem Privatarchiv von Bernard de Fallois (1926 bis 2018). Fallois war ein bedeutender Verleger, unter anderem als Leiter von Hachette, später auf eigene Rechnung. Vor seiner Karriere im Verlagswesen allerdings war er Proust-Forscher: Bereits 1952 hat er auf Basis der Manuskripte "Jean Santeuil" und zwei Jahren darauf "Contre Sainte-Beuve" bei Gallimard veröffentlicht. Eine Doktorarbeit zum Frühwerk wurde nie vollendet: Jener Teil davon, der gefunden wurde, ist kürzlich unter dem Titel "Proust avant Proust" (Proust vor Proust) postum erschienen.

Ediert hatte ihn der Proust-Experte Luc Fraisse, Professor an der Universität Straßburg, der nun auch die Erzählungen herausgibt. Die Manuskripte sind unterschiedlicher Herkunft: Zu manchen gibt es Verkaufsunterlagen, andere hat Fallois vermutlich direkt von Prousts Nichte erhalten, mit der er in Kontakt war, wie Fraisse im Gespräch mitteilt; sie waren ordentlich sortiert. Fallois hat sie der Bibliothèque nationale de France vermacht, weil er wollte, dass sie der Öffentlichkeit zugänglich sein sollten; diesem Wunsch entspringt auch die Sammlung von Erzählungen, die dem Leser durch eine Reihe farbiger Fotografien einen konkreten Eindruck der Materialien vermittelt.

Ob Proust die Publikation gutgeheißen hätte, ist fraglich, obwohl er manche Stücke zeitweise in "Freuden und Tage" aufgenommen hatte, wie ebenfalls entdeckte Inhaltsverzeichnisse zeigen. Allerdings hegte Proust selbst dem Band gegenüber gemischte Gefühle: "Freuden und Tage" hatte eine schwere Geburt, die sich wegen der schleppend gelieferten Illustrationen von Madeleine Lemaire drei lange Jahre hinzog; es war ein kommerzieller Misserfolg, trotz des Vorworts von Anatole France, und die Leserschaft lag vermutlich im zweistelligen Bereich. Später hat Proust einerseits die "leichten Seiten" des Bandes (so ein Brief 1920) abgelehnt, sich andererseits nach der stilistischen Virtuosität seiner Jugend zurückgesehnt - die vielleicht gerade deshalb so groß war, weil der eigene Ton noch fehlte.

Das ist auch in den Erzählungen von "Le Mystérieux Correspondant" der Fall, was aber nicht bedeutet, dass es keine typischen Proust-Sätze gäbe. Ein schönes Exemplar findet sich in "Jacques Lefelde", einer Schriftsteller-Novelle, deren Held sich aus unbekanntem Grund an der Natur des Bois de Boulogne ergötzt: "Und der Geist, der darunter leidet, von einem Gesprächspartner, einem Interesse oder einer zu nahen Mauer beengt zu werden, dehnt sich fröhlich, königlich, frei in den unendlichen Perspektiven aus und zieht mühelos, mit einer berauschenden und melancholischen Geschwindigkeit die Läufe des Wassers und der Jahre hinauf." Solche Sätze, die selbst wie Flüsse mäandern, stehen neben anderen, die wie Pastiches oder Kopien wirken.

Schließlich finden sich autobiographische Gedanken, kurioserweise in dem Märchen "Le don des fées" (Die Gabe der Feen): "Ich bin die Fee der unverstandenen Feinfühligkeit. Alle werden dich verletzen, die, welche du nicht lieben wirst, jene, welche du lieben wirst noch mehr." Dem Erzähler entstünden daraus Grübeln, Schlaflosigkeit und schließlich ein alter Geist in einem jungen Körper - in Selbstaussagen Prousts klingt das nicht anders. Die Fee macht dann die Haben-Seite auf: Die Krankheit "wird dir erlauben, anderen Beschäftigungen nachzugehen, die die Menschen normalerweise vernachlässigen, welche du im Moment deines Ablebens vielleicht für die einzig wichtigen halten wirst. Vor allem, wenn ich sie befruchte, hat die Krankheit Vorzüge, welche der Gesundheit fehlen." Prophetische Worte.

Der Anhang präsentiert spätere Dokumente aus dem Umfeld der "Suche nach der verlorenen Zeit". Sie liefern zum Beispiel den Beleg, dass Proust Joseph Baruzis Studie "La Volonté de Métamorphose" (Der Wille zur Verwandlung, 1909/11) gelesen hat, die versucht, den Willen im Sinne Schopenhauers mit Individualität zu versöhnen; das wirft ein neues Licht auf Prousts Schopenhauer-Rezeption. Auch zur vieldiskutierten Gliederung der "Suche" in sieben Bände, den Familienverhältnissen von Swann oder den Vorbildern der Mädchenschar von "Im Schatten junger Mädchenblüte" - eigentlich eine Gruppe junger Golfspieler, denen eine (missratene) Ode gewidmet ist - geben die Handschriften Aufschluss.

"Le Mystérieux Correspondant" schenkt genussvolle Momente, wertvolle Einblicke, verfeinert das Proust-Bild - und lässt bedauern, dass die Texte nicht Teil von "Freuden und Tage" wurden, denn vollendet hätten sie aus dem Frühwerk "ein viel bedeutenderes Buch" (Fraisse) gemacht hat. Am Ende bleibt Fallois' zentrale Einsicht: dass Proust nicht erst ein mondänes Leben geführt und dann, in den Jahren von Reife und Krankheit, wie besessen geschrieben hat. Nein, auch den jungen Proust muss man sich als Graphomanen von Welt vorstellen.

NIKLAS BENDER.

Marcel Proust: "Le Mystérieux Correspondant et autres nouvelles inédites".

Édition de Luc Fraisse. Éditions de Fallois, Paris 2019. 176 S., Abb., br., 18,50 [Euro].

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