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Wie ausweglos muss die Krise einer Gesellschaft sein, daß sich ihr Niedergang so in das Individuum einschreibt. Gleichnishaft scheint der Körper sich gegen eine Vergiftung wehren zu müssen, deren Ursprung von den Ärzten lange Zeit vergeblich gesucht wird. Die schwachen Abwehrkräfte der Patientin unterlaufen alle ihre Maßnahmen. Mit der Psyche verbündet, streikt das Immunsystem, und die Ursachen dafür liegen nicht allein im Körper, der nach allen Regeln der ärztlichen Kunst behandelt wird. Die Patientin entgleitet den Ärzten, wird bedrängt von Szenen aus ihrem früheren Leben, spürt den Wegen…mehr

Produktbeschreibung
Wie ausweglos muss die Krise einer Gesellschaft sein, daß sich ihr Niedergang so in das Individuum einschreibt. Gleichnishaft scheint der Körper sich gegen eine Vergiftung wehren zu müssen, deren Ursprung von den Ärzten lange Zeit vergeblich gesucht wird. Die schwachen Abwehrkräfte der Patientin unterlaufen alle ihre Maßnahmen. Mit der Psyche verbündet, streikt das Immunsystem, und die Ursachen dafür liegen nicht allein im Körper, der nach allen Regeln der ärztlichen Kunst behandelt wird. Die Patientin entgleitet den Ärzten, wird bedrängt von Szenen aus ihrem früheren Leben, spürt den Wegen nach, die ihre Gefährten von damals gegangen sind. Immer wieder schieben sich Fieberphantasien dazwischen. Abgründe öffnen sich, unterirdische labyrinthische Gänge, in denen die Geschichte rumort, die sie leibhaftig erfahren hat. Wilde phantastische Träume treiben sie durch diese unerledigte Vergangenheit und durch ihre gequälte halbe Stadt Berlin. Und immer wieder taucht ein We ggefährte auf,
der später zum Gegner wurde und dessen Leben tragisch endet. Vieles trägt dazu bei, daß die Kranke in all ihrer Schwäche schließlich den Entschluß fassen kann zu leben - nicht zuletzt die unverbrüchliche Anwesenheit des vertrauten Du.
"Wohin es sie jetzt treibt, dahin reichen die Worte nicht." Diese Erfahrung bringt Christa Wolf zu bezwingend dichter, bedrängender Sprache, Bericht einer Hadesfahrt in das Innere eines todkranken Körpers ...
Autorenporträt
Christa Wolf, 1929 in Landsberg an der Warthe geboren, lebt mit ihrem Mann Gerhard Wolf in Berlin. Sie zählt zu den bedeutendsten Schriftstellerinnen der Gegenwart; ihr umfangreiches erzählerisches und essayistisches Werk wurde in alle Weltsprachen übersetzt und mit zahlreichen nationalen und internationalen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Heinrich-Mann-Preis der Akademie der Künste der DDR (1963), dem Literaturpreis der Freien Hansestadt Bremen (1977), dem Georg-Büchner-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt (1980), dem Österreichischen Staatspreis für europäische Literatur (1985), dem Geschwister-Scholl-Preis der Stadt München (1987), dem Nationalpreis 1. Klasse für Kunst und Literatur (1987), der Ehrendoktorwürde der Freien Universität Brüssel (1990), dem Orden Officier des Arts et des Lettres (1990), dem Elisabeth-Langgässer-Preis (1999) und dem Nelly Sachs-Preis (1999). 2009 wurde Christa Wolf zur Ehrenpräsidentin des P.E.N. ernannt. 2010 erhielt sie den Thomas-Mann-Preis für ihr Lebenswerk.
Im Dezember 2011 verstarb Christa Wolf in Berlin.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.02.2002

Operation Tunnelblick
Krankheitsmuster: Christa Wolf überlebt die DDR im Hades

Wie bedroht muß ein Leben sein, welche Hoffnung muß sich an die Krankenhausmedizin knüpfen, daß sich für die Patientin die Pflegerin zur mythologischen Gestalt verklärt? In Christa Wolfs neuer Erzählung "Leibhaftig" spielt eine Anästhesistin die entscheidende Rolle: "Die stille, namenlose Nachtschwester hat Hilfe bekommen, eine dunkle junge Frau geht ihr zur Hand." Sie heiße Kora Bachmann, sagt sie, was die Patientin sofort kommentiert: "Beziehungsreicher Name" - ein deutliches Signal an den Leser, und das in mehrfacher Hinsicht: Im Werk der Ingeborg-Bachmann-Verehrerin Christa Wolf ist der Nachname der Anästhesistin kaum zufällig gewählt, und der Vornamen legt, zumal in der manierierten Schreibweise mit "K", ein Deutungsmuster fest, das den Text bis zum Ende hin prägen wird. Die Ärztin, deren ungewöhnliche Schönheit "in ihren leichten, fast scheuen Bewegungen" liegt, ist "mädchenhaft, lebhaft, gewissenhaft" und, kaum verhüllt, eine Persephone- oder Kore-Gestalt: in der griechischen Mythologie die Gattin des Totengottes Hades, die einen Teil ihrer Zeit unter den Lebenden, den anderen unter den Toten verbringt. Kora Bachmann obliegt es, die Patientin auf ihren Wegen zwischen Tod und Leben zu begleiten, sie in den Hades zu führen - und vor allem wieder zurück.

Christa Wolfs Erzählung handelt vom langen Krankenhausaufenthalt einer aufs äußerste bedrohten Frau. Der Text ist unverhohlen autobiographisch fundiert: Die Schriftstellerin verbrachte 1988 - das Jahr, in dem die Erzählung spielt - einige Monate im Schweriner Krankenhaus, als sie nach einem Blinddarmdurchbruch insgesamt fünfmal operiert werden mußte. Als Ausgangssituation für eine Erzählung ist dies im Werk Christa Wolfs nichts Neues: Erinnerungen aus dem Krankenbett an das Leben draußen gaben schon die Struktur für "Der geteilte Himmel" und zahlreiche andere Texte Wolfs vor. Doch in "Leibhaftig" steht nicht die Außenwelt, sondern die Krankheit im Vordergrund, die im "Geteilten Himmel" kaum mehr als Staffage war.

Hier aber, das ist auf jeder Seite zu spüren, wird es ernst, hier geht es um Leben und Tod. Im Zentrum steht der Körper der Patientin, der nicht mehr laufen oder auch nur schlucken kann, der im Bewußtsein der Erzählerin nicht selten als so fremd wahrgenommen wird, daß sie sich gedanklich von der Leidenden abspaltet und distanziert über sie berichtet wie über eine Fremde. Der Preis für diese Erholungspausen von der Identifikation mit der Sterbenskranken ist freilich hoch: Sie werden erkauft mit einem schleichenden Verlust an Realitätswahrnehmung, als dessen Folge Phantasien und andrängenden Bilderfluten im Bewußtsein der Patientin breiter Raum eröffnet wird, bis hin zu der Gefahr, daß sich die Kranke in ihren wiederkehrenden Todesvisionen verliert.

Für den Leser bedeutet diese Disposition allerdings einen erheblichen Zugewinn: Das Dahindämmern im Krankenhaus, die immer wieder auftretenden Fieberschübe, die langwierige Prozedur im Computertomographen, wo selbst das gleichmäßige Atmen verordnet werden muß, all dies wird in einem aufregenden Wechsel aus sachlicher Schilderung und phantasievoll verfremdeter Innenschau beschrieben, und die besten Passagen von Wolfs Erzählung finden sich in den faszinierenden Tunnelvisionen der Kranken, die sich durch endlose Kellergänge und düstere Verschläge in ein Totenreich der unverarbeiteten Erinnerungen träumt.

Der Abstieg in die Unterwelt gilt zunächst der Krankheit; er ist dem Versuch geschuldet, herauszufinden, was das Leiden verursacht. Der Ertrag ist zunächst gering (und überdies aus anderen Texten Wolfs vertraut): "Nicht einmal staunen kann ich, daß ich hierher geraten mußte, auf den Boden dieses Schachtes, damit mir Sorgen und Mühen vergehen. Eine Ahnung will mir aufdämmern, als sei diese ganze aufwendige Veranstaltung aus keinem anderen Grund inszeniert."

Die Krankheit als Chance, als Atempause vor der Außenwelt - tatsächlich wird immer wieder auf die äußerst sensible Haltung hingewiesen, mit der die Patientin allen Katastrophen und Unfällen, die anderen widerfahren, begegnet. So ist sie lange Zeit außerstande, Radio zu hören, weil die Berichte von Flugzeugabstürzen oder Mordanschlägen sofort eine Bilderflut in ihr auslösen, die sich mit den wiederkehrenden Tunnelvisionen zu irritierenden Albträumen vermischt. Da wird im Fiebertraum etwa aus der Nachricht einer Kindstötung ein Homunculus, der die Patientin durch den Tunnel begleitet und zur Erinnerung an eine verstorbene Tante überleitet, die während des Krieges die Geliebte eines jüdischen Arztes war. Dinge überlagern sich, wachsen zusammen, treten pointiert ans Tageslicht und werden später von der Patientin mit ihrem namenlosen langjährigen Begleiter zu diskutieren versucht. "Es ist uns ja eingetrichtert worden, daß alles und jedes dadurch, daß es sich als Geschichte erzählen läßt, sinnhaft wird, seine Sinnhaftigkeit beweist", heißt es einmal. Dieses Verfahren aber muß an den auf die Kranke eindrängenden Visionen scheitern, da sich eine nacherzählbare Struktur nur selten einstellt.

Leider beläßt es das Buch nicht dabei und vertraut nicht auf die Suggestivkraft dieser Geschichte zwischen Tod und Leben. Offenbar um den Beweis der Sinnhaftigkeit des Erzählten anzutreten, wird die Krankengeschichte immer wieder zur Agonie der absterbenden DDR in Beziehung gesetzt. Diese Passagen gehören zu den schwächeren des Bandes; sie wirken wie nachträglich, aus dem Abstand von zwölf Jahren, konstruiert. Dabei ergeben sich zwar auf allen Ebenen Parallelen zwischen der Person und der Gesellschaft, die anfangs überraschen, später aber in ihrer Funktion so vorhersehbar geworden sind, daß sie wie hartnäckig eingefügte Hinweise und damit wie Fremdkörper erscheinen. So ist immer wieder von der Mangelwirtschaft in der DDR die Rede (und gleich darauf von dem ausgebildeten Improvisationstalent ostdeutscher Ärzte und Pfleger), die ihre Entsprechung im Körper der Patientin findet. Als sie den Arzt fragt, warum es ihr so schlecht gehe, erhält sie die Antwort: "Weil Ihnen wichtigste Stoffe fehlen." Das lebensrettende Medikament muß dann im Westen eingekauft und eilig ins Krankenhaus geschafft werden.

Auf das Ende der DDR deutet der Freitod Urbans voraus, des früheren Weggefährten der Patientin aus Studientagen, der aber eine Funktionärskarriere macht und im Staat aufgeht, bis er mit dem veränderten gesellschaftlichen Klima der Vorwendezeit nicht mehr zurechtkommt und sich das Leben nimmt, was die Kranke in ihren Fieberträumen schon ahnt. Und auch die Vergiftung ihres Körpers nach dem Blinddarmdurchbruch findet ihre Entsprechung in der schleichenden Vergiftung des von der Patientin und ihren Freunden einst so hoffnungsvoll begleiteten sozialistischen Projektes. Doch während sie den Ursachen der eigenen Krankheit gerade noch rechtzeitig nachspürt, ist es für die DDR schon zu spät.

All dies liegt allzu nahe, um die Geduld des Lesers nicht nach einiger Zeit zu strapazieren, zumal im Verlauf der Erzählung zu der Kranken und ihrem Staat auch noch die Natur tritt, um mit einem ausgeprägt regnerischen Sommer, der von der Angst um die Ernte begleitet wird, ein weiteres Mal die Unordnung der Welt zu symbolisieren. Natürlich ist auch diese Entwicklung parallel zum Verlauf der Krankheit angelegt - als sich mit dem Ende der Regenfälle doch noch die Hoffnung auf eine ergiebige Getreideernte einstellt, ist die Erzählerin auf dem Weg der Besserung schon so weit fortgeschritten, daß sie zum erstenmal wieder am Essen interessiert ist und sogar Angst vor dem Verhungern hegt. Doch die Parallele reicht weiter: Beide Heilungsprozesse, die sich an der Natur und an der Patientin vollziehen, sind in der rätselhaften Ärztin verkörpert, die sich als Kore traditionell um das Getreide und als Anästhesistin um den Heilschlaf der Patientin kümmert.

Das alles nimmt man in Kauf, um der suggestiven Hadesvisionen willen. Doch daß die Rekonvaleszente, nachdem sie ihre eigenen Projektionen schließlich durchschaut hat, diese anschließend der Anästhesistin wortreich erklärt, ist entschieden zuviel des Guten.

Christa Wolf: "Leibhaftig". Erzählung. Luchterhand Verlag, München 2002. 192 S., geb., 18,- .

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»Literatur war für sie der Passierschein in eine Möglichkeitswelt: Christa Wolf suchte zeitlebens den Anschluss an das, was sie für wahr hielt.« F.A.Z.