Kai ist 25 und am Ende: Nach einem schweren Arbeitsunfall findet er keinen Job mehr, seine Wohnung ist ein heruntergekommenes Loch, sein einziger Trost sind Alkohol und Drogen, mit denen ihn sein türkischer Kumpel Shane versorgt. Und da sind noch Shanes Brüder, die Kai Geld geliehen haben und ihn nun zwingen, für sie Drogen zu schmuggeln. Dann begegnet Kai Marion, und plötzlich ist alles anders. Marion ist hübsch, Marion ist sexy, Marion ist witzig, und Marion mag ihn, trotz seiner zerrissenen Klamotten. Sie ist Kais große Liebe, das Licht am Ende seines Tunnels, und alles könnte gut werden - wenn da nicht ein fatales Geheimnis wäre, das Marion verbirgt, und wenn Kai nicht irgendwann klar werden würde, dass nichts so ist, wie es den Anschein hatte. André Pilz erzählt eine große Geschichte: eine Geschichte von Liebe und Gewalt, von Freundschaft und Betrug, von Leidenschaft und Rebellion, die Geschichte einer verlorenen Generation in unserer Wohlstandsgesellschaft. Und er erzählt diese Geschichte genau so, wie sie erzählt werden muss: hart, direkt, authentisch und emotional.
Harte Landung: "Man down" von André Pilz
"Man down" bedeutet im Amerikanischen ungefähr alles, was nicht erstrebenswert ist: pleite, gefallen oder feige sein, verprügelt werden, Durchfall haben, betrunken zusammenbrechen. Dass es sich bei einem Buch mit diesem Titel nicht um Gutelauneliteratur handelt, darf vorausgesetzt werden. "Es gibt zwei Arten von Menschen", sagt darin Kais bester Freund: "Die einen sind Täter. Die anderen sind Opfer. Und du bist ein Opfer." Er hat recht. Doch Kai möchte man nicht unentwegt bemitleiden. So wandert der Münchner André Pilz mit seinem vierten Roman auf einem schmalen Grat, das macht er sagenhaft gut. "Man down" beweist, dass eine Tragödie nicht unbedingt eine Fallhöhe erfordert, denn hier gibt es praktisch keine.
Schon zu Beginn der Geschichte ist Kai ein Verlierer. Das Studium hat er abgebrochen und dann seine Berufung als Dachdecker gefunden. Bis er abstürzte, weil er auf Geheiß des Chefs ohne Absicherung arbeitete. Jetzt ist er fünfundzwanzig, wartet noch immer auf die Lohnzahlungen der vergangenen sechs Monate vor dem Unfall, kann wegen seiner Verletzung nicht mehr als Dachdecker arbeiten und lebt in einer heruntergekommenen Wohnung in München-Giesing. "In den Nächten, da träumte ich zu fallen. Von einem Dach. Von einem Felsen. Aus einem Flugzeug. Ich stürzte jede Nacht in die Tiefe."
Wie soll das noch schlimmer kommen? Es müsste nur eine Kleinigkeit passieren, damit sich alles zum Guten wendet: Kai könnte einen Job finden oder seinen juristischer Kampf um den Lohn gewinnen. Stattdessen passieren Kleinigkeiten, die ihn noch weiter fallen lassen. Denn Kai schuldet den Brüdern seines besten Freundes Shane Geld für die Miete. Kai wird Drogenkurier. Ein Drogenkurier, der das Bein nachzieht und, bevor er den Stoff in einem Studentenwohnheim abliefert, erst seinen Kumpel anrufen muss aus Erstaunen über die enorme Hässlichkeit des Gebäudes.
Der Kontrast aus Wut und Schwäche, die verrohte Sensibilität, kennzeichnet Pilz' Figurenzeichnung. Kai ist kein fehlgeleiteter Intellektueller. Aber er trägt einen kindlich anmutenden Glauben an das Gute in sich, der umso mehr dazu führt, dass er an der Welt verzweifelt. Und weil diese Verzweiflung irgendwo hin muss, schreibt Kai Briefe an seinen jüngeren Bruder Florian. Sie erreichen ihren Absender nie. Er beschreibt darin, wie seine Nachbarn nachts feiern. Und er erzählt, wie es ihm geht, der doch eigentlich in derselben Situation ist, die in letzter Zeit von einigen Politikern als überaus komfortabel hingestellt wurde: "Ich habe Angst vor allem und jedem. Vor dem Atmen, dem Träumen, meinen Gedanken, meinen Gefühlen, vor dem Morgen. Ich habe Angst, dass mir wer den Strom abdreht oder das Wasser oder dass ich für Jahre auf einem Schuldenberg sitzen muss und die Zinsen mich auffressen."
Mit der Angst vor Gefühlen liegt Kai richtig. Denn als er Marion trifft, verliebt er sich, und diese Liebe wird ihm das Herz herausreißen. Zwar erwidert Marion seine Gefühle, doch ihr Leben ist mindestens so elend und verfahren wie seines. In dieser Phase des Romans überschreitet André Pilz, der seine Figuren und Leser zuvor noch ertragbar quälte, jegliche Schmerzgrenze. Seine Geschichte wird grausam und gemein, aber sie bleibt so fesselnd, dass es kein Entkommen gibt. Auch die Sprache ist explizit genug, um übelste Situationen genau zu beschreiben ohne dabei den Eindruck zu erwecken, sie diene allein der Provokation. Pilz will nicht schocken, er will wachrütteln. Dabei bedient er sich aller Mittel, die ihm als Buchautor gegeben sind, und verschafft seiner Geschichte eine ungeheure Wucht. "Man down" ist ein Buch wie ein rechter Haken: Der Schmerz fährt durch den ganzen Körper und ist überraschend lange spürbar.
JULIA BÄHR
André Pilz: "Man down". Roman.
Haymon Verlag, Innsbruck, Wien 2010. 276 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Den Schmerz, den diese Lektüre verursacht, kann Julia Bähr noch lange danach spüren. Obgleich ihr schon der Titel signalisiert, dass sie es nicht mit einem Kuschelbuch zu tun hat, ist sie doch überrascht, wie gnadenlos der Autor zu Werke geht, wie grausam seine Geschichte sich entwickelt und wie sie dennoch fesselnd bleibt. Fesselnd, so mutmaßt Bähr, weil es Andre Pilz in seinem vierten Roman gerade nicht darauf anlegt zu schocken. Für sie steht fest: Pilz geht es um das Tragische ohne Fallhöhe. Und das hat er verdammt gut im Griff, findet sie.
© Perlentaucher Medien GmbH
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