Ortensia und Anemone sind Zwillingsschwestern und dennoch grundverschieden: Sie mögen sich nicht besonders und legen Wert auf die Feststellung, zweieiige Zwillinge zu sein. Ortensia ist der Pechvogel der beiden, das Aschenputtel: magersüchtig, verhärmt, steckt sie voller Komplexe und klammert sich an die verschiedensten Heilslehren. Anemone dagegen ist der Glückspilz: das schöne Mädchen ohne Probleme, das alle lieben. Übermütig, strahlend und selbstverliebt verachtet sie alles Intellektuelle und behandelt ihre Schwester mit der Herablassung der großmütigen Siegerin. Beide Frauen suchen dieselbe Hellseherin auf: die Magierin Manola - eine rätselhafte Gestalt, Adressatin der schonungslos offenen Erzählungen der beiden Frauen, aber auch Zeugin ihrer Existenz und Richterin, die hinter ihrer Kristallkugel über "richtig" oder "falsch" der Lebensgeschichten der beiden so unterschiedlichen Schwestern befinden soll. Am Ende wird klar, dass beide Frauen Facetten einer einzigen fasziniere nden und quicklebendigen Geschichte sind.
Margaret Mazzantini und das Wunderbare
Die Gattung des Kunstmärchens war seit ihrer Entstehung im Italien der Renaissance, bei Boccaccio, Straparola oder später Basile, in ihren periodischen Erfolgen beim Publikum eigentümlich an die Sprünge der Vernunft- und Moralgeschichte gebunden. Bei der modernen Wiederbelebung im Frankreich des achtzehnten Jahrhunderts, bei Perrault, Mme d'Aulnoy oder Antoine Hamilton, wurden Geschichten wunderbaren Inhalts zu Exempeln einer Dialektik der Aufklärung. Im Märchen restituierte die Einbildungskraft das von Vernunft und bürgerlicher Moral Verdrängte und brachte zugleich die latente Unvernunft zum Vorschein. Die Derbheit, mit der die italienischen Muster von Eros, Kot und Blut redeten, und damit der psychohygienische Nutzwert der Form gingen dabei weitgehend verloren. In der deutschen Romantik wurde das Märchen im Autonomieanspruch zur subtilen Instanz der Vernunftkritik sowie der Loslösung der Poesie von einem als allgemein gedachten Kommunikationszusammenhang, in die sich die Sorge um die Isolierung der Seele mischte.
Im zwanzigsten Jahrhundert wollte die Erneuerung dieser Form des Wunderbaren nicht recht gelingen. Margaret Mazzantini versucht in ihrem Kunstmärchen, das gemäß einer inflationären Praxis als Roman firmiert, gleichwohl eine Anknüpfung an die neuzeitlichen Ursprünge, gleichzeitig aber spielt sie fortwährend auf die Geschichte der Gattung an. Die Konstruktion ist so einfach, wie es sich für ein Märchen gehört. Die verblümten Schwestern Ortensia und Anemone sind zweieiige Zwillinge. Ortensia ist potthässlich, garstig und gestört, Anemone schön, sexuell attraktiv und unproblematisch. Abwechselnd erzählen sie ihre Geschichte der schweigenden Wahrsagerin Manola. Im Fortgang des Erzählens kommt es dann zu einer wundersamen Umkehrung. Aus Anemone wird eine "jammernde schwabbelige Matrone", aus Ortensia ein ästhetisches Wesen, in dem sich Geist, Seele und Sinnlichkeit vereinen. So stellen sie sich in der Verwandlung als die beiden Seiten derselben Anima heraus. Das kann ruhig verraten werden, weil alles von vornherein darauf hinausläuft und weil es vielmehr auf die Durchführung der vorgeblichen Einsicht ankommt, dass "Illusionen eitle Kreaturen sind, hinterlistige Kurtisanen unserer Fantasie".
Das Zauberschloss der alten Märchen ist in "Manola" ein Stundenhotel, "ein echtes Wunder", in dessen Klientel man all "die Feen, Ritter, Fürsten, Hexen und auch manch einen Zwerg" wiedererkennt. Die Mutter der ungleichen Schwestern ist ein Luftgeist, eine Art somnambule Pipi Langstrumpf mit Voodoo-Fähigkeiten, der Vater ein trunksüchtiger Kobold, insgesamt "eine nervöse Künstlerfamilie". Die Kinder nun sollen, wie schon die romantische Märchentheorie wollte, "ein uraltes, fein verästeltes Wissen" haben. Das führt gelegentlich zu handfesten und altbackenen Weisheiten, die im Aufklärungsmärchen "moralités" hießen, zum Beispiel, "dass es im Leben immer einen Langen gibt, der einen Kurzen verschlingt". Im Übrigen aber sind die Einsichten ganz von heutiger Populärpsychologie durchtränkt.
Das Material des Wunderbaren schöpft Margaret Mazzantini aus dem Spektrum funktionalisierter moderner Unvernunft, aus dem Jargon der Tiefenpsychologie Freud'scher wie Jung'scher Prägung, dem ganzen Psycho-Schnickschnack verschiedenster Therapie- und Selbstverwirklichungsformen, dem geballten okkulten und pseudoreligiösen Unsinn von Horoskop und Wahrsagerei bis zum Euro-Buddhismus und schließlich aus dem Recycling philosophischer Moden. In diesem Gequatsche muss die dem Leser zunächst vorgespiegelte Absicht notwendig scheitern, in erneuter Drastik zur Sprache zu bringen, wovon die bürgerliche Vernunft einst nicht reden mochte. Noch Freud hatte da Ortensias Psychoanalytikerin zufolge "leichtes Spiel", heute aber "lassen es sich alle freudig von hinten besorgen, liebe Anemone. Es gibt kein Schuldgefühl mehr; es gibt keine Familie mehr, es gibt nicht mal mehr eine spuckevoll Glauben, einen furzvoll Moral, um Obstruktionismus zu betreiben."
Solches Scheitern zelebriert die irisch-italienische Autorin als Groteske in Kaskaden von unzensierten Einfällen. Ortensia sieht schlimmer aus als das Alien und weist sämtliche vierhundert Phobien auf, die das Lehrbuch der Psychiatrie verzeichnet, von der analen Störung bis zur ecclesiogenen Neurose. Trotzdem scheint sie, zu jedem Topf passt ein Deckel, einen Geliebten zu finden: Jean-Poldo, ein stinkendes, mit "Androstan" voll gesogenes Monstrum, das aussieht wie Sartre als Elephant Man. Mit ihm erörtert sie "die sexuelle Problematik der Pizza". Er aber verlässt seinen vergeistigten Castor und wendet sich der Schönen zu, die es vermag, einen siebenundneunzigjährigen Bischof beim Orgasmus zum Feuerspucken zu bringen. Woraufhin sie, die selbst "in weniger als drei Sekunden einen wahnsinnigen Fußsohlenorgasmus" produzieren konnte, alsbald Wasser in den Beinen hat und eine "Mysophobie" entwickelt. Der göttliche Gatte schenkt ihr kein Kind, dafür "einen prächtigen Kothaufen". Den bringt die Mutter liebevoll in einem Einmachglas, "in seiner kleinen Glaswiege unter". Noch abstrusere Einfälle mag sich der geneigte Leser selbst zu Gemüte führen.
So dreht die Einbildungskraft dieser intelligenten und sprachmächtigen Autorin im Lauf der Geschichte immer heftiger durch und reiht die Einfälle zu einer dahinklappernden Mechanik, die mit dem Ekel des Lesers nicht mehr im Ernst rechnet und die ihm mit der Zeit ähnlich auf die Nerven geht, wie schon die de Sade'sche oder Bataille'sche Serienproduktion von kopulativen Absonderlichkeiten. Die weitgehende Ungerührtheit zeugt davon, dass Eros, Kot und Blut als Chiffren des Wunderbaren und Anderen kaum mehr taugen, alles scheint restlos integriert. Man kann Margaret Mazzantinis Hyperbolik die konsequente Folgerichtigkeit nicht absprechen, aber mit ihr lässt sich nur zeigen, was in der verhalten kulturkritischen Prämisse dieses postmodernen Kunstmärchens enthalten ist: "Das hat keinen Sinn."
FRIEDMAR APEL.
Margaret Mazzantini: "Manola". Roman. Aus dem Italienischen übersetzt von Ulrich Hartmann. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2000. 301 S., geb., 44,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main