Produktdetails
- Verlag: Ammann
- ISBN-13: 9783250102229
- Artikelnr.: 05293855
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Morgens Republikaner, abends Monarchist: Pessoas Liebe und Politik / Von Max Grosse
Die erste Begegnung fand vor der Türe eines Lissabonner Fachgeschäftes für Bohrer statt, das die Herren Félix, Valladas & Freitas in der Rua da Assunção 42 betrieben. Fräulein Ophélia Queiroz, ein neunzehnjähriges Mädchen aus gutem Hause, war in der züchtigen Begleitung einer Dienstmagd ihrer Schwester erschienen, weil eine Anzeige in der angesehensten Lissabonner Tageszeitung den Posten einer Fremdsprachensekretärin offerierte. Doch das Büro war noch verschlossen, als plötzlich eine merkwürdige Erscheinung den Blick der Stellensuchenden kreuzte: "Auf einmal sahen wir einen ganz schwarz gekleideten Herrn die Treppe heraufsteigen (ich erfuhr später, daß er wegen seines Stiefvaters Trauerkleidung trug), mit einem Hut mit umgeschlagener, gesäumter Krempe, Brille und einer Fliege um den Hals. Beim Gehen schien er den Boden nicht zu berühren. Und seine Hosenbeine steckten - gar nichts Ungewöhnliches - in Gamaschen. Das reizte mich - ich weiß nicht, weshalb - schrecklich zum Lachen, und es kostete mich große Mühe zu sagen, ich wolle mich auf die Annonce bewerben, als er uns schüchtern fragte, was wir wünschten." Mit dem Gelächter des - wie man im Jahre 1920 wohl gesagt hätte - Backfischs über den dreizehn Jahre älteren Herrn beginnt eine der seltsamsten und rührendsten Liebesgeschichten, von der wir aus den neueren Literaturen wissen.
Da Ophélia Queiroz die gewünschte Stelle erhält und Fernando Pessoa seinen Lebensunterhalt als Übersetzer von Geschäftsbriefen verdient, sehen sie sich öfters. Er erliegt der porzellanpuppenhaften Schönheit mit den großen dunklen Augen und vielleicht auch ein wenig ihrem literarisch vorbelasteten Namen. Denn statt für sein erstes Liebesgeständnis eigene Verse zu schmieden, erborgt er sich die Worte von Shakespeares schwermütigem schwarzgewandeten Dänenprinzen: "Meine liebe Ophélia! Meine Verse hinken; mir fehlt die Kunst, meine Seufzer abzumessen; aber ich liebe dich ganz ungeheuer. Bis zum Äußersten, glaub mir das!" Es folgen heiße Küsse im Kontor und - zu deren Erklärung - ein Briefwechsel in zwei Schüben. Erhalten sind jedoch nur die werbenden Briefe des Dichters. Die Sicht der Angebeteten gibt lediglich ein späterer Bericht wieder, den ihre Großnichte ihr mehr als fünfzig Jahre später entlocken konnte, als der zu Lebzeiten nur in Lissabonner Literatenkreisen bekannte Dichter bereits weltberühmt war.
Gelegentlich mußte sich Ophélia eigenartige Kosenamen anhören. Schließlich waren die Grenzen von Pessoas Ich stets prekär und wandelbar, weshalb er das sie weiter zersetzende Reagenz der Leidenschaft als "meine Schwefelsäure" ansprach. Im Briefwechsel allerdings ergießt sich die ganze Flut von Fernandos Zärtlichkeit in all jene Verkleinerungsformen, die im Portugiesischen ohnehin gern über Gebühr strapaziert werden. Der Brief vom 31. Mai 1920 gleitet ganz in die Babysprache ab; sechs Monate später ist dann die erste Etappe der Liebschaft vorüber. Die meisten Briefe beteuern die Zuneigung des Schreibers und fordern die der Geliebten ein, sie treffen Verabredungen für flüchtige Begegnungen auf der Straße und empfehlen der Diskretion dienende Vorsichtsmaßnahmen.
Weitergehende Überlegungen übermitteln die Liebesbriefe kaum, aber paradoxerweise bereichert gerade die fast völlige Abwesenheit dichterischer Selbstreflexion unsere Kenntnis von Pessoas widersprüchlicher Persönlichkeit und damit auch von seinem vielgestaltigen Werk außerordentlich. Wenn für Pessoa die schmale Linie zwischen Wirklichkeit und Erfindung immer weiter verschwimmt, dann ist das keine postmoderne Attitüde. Es handelt sich hier um ein Lebensproblem, welches ihn bis an die Grenze des Wahnsinns, aber eben nicht über diese hinaus treibt.
Da wahre Empfindungen bei ihrer sprachlichen Vermittlung nur allzuoft ihre Authentizität einbüßen, fordert der eifersüchtige Meister der Mystifikationen von Ophélia nicht tiefere Gefühle, sondern glaubwürdigere Illusionen: "Ich verstehe, daß jemand Krankes auf die Nerven geht und es schwierig ist, ihm Zärtlichkeit entgegenzubringen. Doch ich hatte Dich nur darum gebeten, diese Zärtlichkeiten zu fingieren, einiges Interesse für mich zu simulieren. Das würde mich zumindest nicht so schmerzen wie die Vermischung Deines Interesses für mich und Deiner Gleichgültigkeit gegenüber meinem Ergehen."
Auch Ophélia hat es nicht leicht. Sie liebt Fernando und muß sich deshalb mit seinen heteronymen Spießgesellen herumschlagen, für die er Lebensläufe und Dichtungen mit jeweils eigenem Stil erschafft. Harmlos noch, wenn Herr Crosse erwähnt wird. In seinem Namen möchte der mehrsprachige Pessoa bloß das crossword puzzle der "Times" lösen, um mit dem gewonnenen Pfundbetrag einen Hausstand zu gründen und Ophélia zu heiraten. Diese Hoffnung zerschlägt sich wie alle anderen Pläne Pessoas, seine finanzielle Lage zu verbessern.
Schwieriger wird es dann, wenn sich der weitgereiste schottische Schiffsingenieur Álvaro de Campos in die Liebesaffäre einmischt. Campos wurde maßgeblich von Walt Whitman und von den italienischen Futuristen beeinflußt: Er ist nicht nur die kühnste, aggressivste und sprachmächtigste aller Ausgeburten von Pessoas Feder, sondern auch diejenige, die ihrem Schöpfer im Alltagsleben am ehesten in die Quere kommt. Nun hatte das Ich von Campos in der "Meeresode", einem der großartigsten Gedichte Pessoas überhaupt, deutliche Zeichen von Auflösung gezeigt. Vehikel der Ich-Entgrenzung waren die ausgeprägten bisexuellen und masochistischen Neigungen des Ingenieurs, der eine Vergewaltigung durch Piraten erträumte.
Kein Wunder also, daß Ophélia den sanften Fernando dem unberechenbaren Álvaro vorzieht, auch wenn sie nicht immer sicher sein kann, mit wem sie es eigentlich zu tun hat! Fernando gibt sich in seinem Brief vom 27. 4. 1920 ganz beruhigt, aber kann das seine Adressatin auch sein? Denn manchmal tritt Fernando als "alter Freund" des Ingenieurs, manchmal aber auch als Álvaro selbst auf: "Du ahnst gar nicht, wie hübsch ich Dich heute am Fenster der Wohnung Deiner Schwester gefunden habe! Wie gut, daß Du heiter warst und bei meinem Anblick (Álvaro de Campos) Vergnügen gezeigt hast."
Pessoas Ich-Spaltung und seine davon nicht zu trennende poetische Begabung hat wohl auch die Liebenden entzweit, zuerst im November 1920, dann endgültig neun Jahre später, nachdem unter der Asche noch einmal die alte Glut aufgeleuchtet hatte. Pessoa opfert die einzige große Liebe seines Lebens dem Werk und erlebt dieses Opfer doch zugleich als fremdbestimmt: "Bleiben wir füreinander wie zwei Kindheitsgespielen, die sich als Kinder ein wenig liebten und, wenn sie auch im erwachsenen Leben anderen Neigungen und anderen Wegen folgen, immer in einem Eckchen der Seele die tiefe Erinnerung an ihre alte und nutzlose Liebe behalten. Die ,anderen Neigungen' und ,anderen Wege' betreffen Sie, kleine Ophêlia, und nicht mich. Mein Schicksal gehorcht einem andern Gesetz, von dessen Existenz Sie nicht wissen, und ist immer mehr dem Gehorsam gegenüber Meistern unterworfen, die nichts erlauben und nichts verzeihen."
Mit den "Meistern" dürften die Heteronyme des "Dramas in Leuten" gemeint sein, insbesondere Alberto Caeiro, Álvaro de Campos und Richardo Reis, ja vielleicht all jene Stimmen, die den Dichter sonst noch bewohnten und bedrängten. Schon 1916 berichtet Pessoa in einem Brief an Tante Anica von spiritistischen Erfahrungen und "Astralvisionen". Sein Interesse für astrologische, theosophische und kabbalistische Geheimlehren wächst mit der Zeit immer weiter an, sein Ich ist nicht Herr im Hause und will es oft nicht einmal sein.
Okkulte Spekulationen und ästhetische Erwägungen liefern auch die Schlüssel zum Verständnis von Pessoas politischen Schriften. Obwohl er mit Sicherheit kein Anhänger Salazars war, empfiehlt er doch insgesamt bei aller Widersprüchlichkeit, aller Orakelhaftigkeit und allen dialektischen Winkelzügen im einzelnen eher autoritär militärische als demokratische Lösungen für die politische Krise Portugals seit dem Sturz der Monarchie im Jahre 1910. Mit der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und der Vermeidung eines Bürgerkrieges rechtfertigt er 1928 in "Das Interregnum" die Militärdiktatur des Generals Carmona. Die Französische Revolution gilt Pessoa als Sündenfall, die Ideale der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit als Opium fürs Volk.
Der Ammann Verlag hat darauf verzichtet, die politischen Spekulationen mit in die deutsche Werkausgabe einzubeziehen; sie sind jetzt in einer Auswahl, die leider auf die nachgelassenen Fragmente gänzlich verzichtet, bei Karolinger zwischen Büchern von Joseph de Maistre und Carl Schmitt erschienen. Der Herausgeber Brunello De Cusatis zählt Pessoa zu einer "heroischen Minderheit", den sogenannten "Sehenden", zu denen außer Yeats und Kafka ausgerechnet D'Annunzio, der Eroberer von Fiume, und Ezra Pound, der glühende Apologet Mussolinis, gehören sollen.
Nun urteilt Pessoa stets als Dichter und ordnet die Politik immer der Ästhetik unter. Da er sich am liebsten auf dem Zickzackkurs der Paradoxie bewegt, läßt er sich nur schwer auf eine bestimmte Position festnageln. So verteidigt er in Zeitungsartikeln von 1915 den Verrat als Form des Individualismus und betrachtet ganz analog zum Sensationismus, den Álvaro de Campos zur gleichen Zeit in die Lyrik einführt, den ständigen Wechsel der Empfindungen und Meinungen als Wert an sich: "Der disziplinierte und gesittete Mensch macht seine Eindrücke und Einsichten zu Spiegeln seiner flüchtigen Umwelt: morgens Republikaner, bei Sonnenuntergang Monarchist; Atheist bei Sonnenschein, ultramontaner Katholik in gewissen Stunden des Schattens und des Schweigens." In seinem futuristischen Manifest "Ultimatum" fordert Álvaro de Campos gar die "Abschaffung des Dogmas der Personalität" und "das Verschwinden aller Institutionen, die sich auf die Tatsache stützen, irgendeine ,öffentliche Meinung' könne länger als eine halbe Stunde dauern".
Der Widerstreit zwischen Persönlichkeits- und Meinungsvielfalt auf der einen Seite und dem Einheitswunsch auf der anderen prägt Pessoas Dichtung ebenso wie sein politisches Denken. Die Umdeutung des sebastianistischen Geschichtsmythos soll die Versöhnung fördern. 1578 hatte der König Sebastian an der Spitze des portugiesischen Heeres eine vernichtende Niederlage in Nordafrika erlitten und war verschollen, worauf Portugal an die spanische Krone fiel. Dieses Trauma wurde mit der Hoffnung auf die mythische Wiederkehr Sebastians kompensiert, der das "fünfte Reich" und eine neue Ära portugiesischer Größe heraufführen sollte.
Pessoa verwandte viel Energie auf die Auslegung der einschlägigen Prophezeiungen und versuchte sich selber in der Rolle des Propheten. Aber eine reine Lehre mochte er nicht empfehlen: "Die Zukunft Portugals - damit rechne ich nicht, das weiß ich - ist bereits für den, der zu lesen weiß, in den Strophen des Bandarra niedergeschrieben, ebenso in den Vierzeilern des Nostradamus. Diese Zukunft heißt, daß wir alles sein werden. Wer, der Portugiese ist, kann in der Beschränktheit einer einzigen Person, einer einzigen Nation, eines einzigen Glaubens leben? Welcher wahre Portugiese kann zum Beispiel in der sterilen Beschränktheit des Katholizismus leben, wenn man außerhalb davon in allen Protestantismen, in allen orientalischen Glaubensrichtungen, in allen toten und lebenden Heidentümern leben und sie portugiesisch im höheren Heidentum verschmelzen muß? ( . . . ) In der ewigen Lüge von allen Göttern sind nur die Götter alle die Wahrheit."
Die Vielgötterei entspringt der Vielfalt von Pessoas Stimmen: Sie in ihrer ganzen Fülle hörbar zu machen bleibt seinen Herausgebern und Übersetzern immer noch aufgegeben. Zwar gilt Textkritik auch unter Philologen häufig als notwendiges Übel, als ein bleiernes Handwerk, das den Deutern der Werke nur die Flügel beschwert. Aber welche Überraschungen die erneute Entzifferung des handschriftlichen Nachlasses von Pessoa bereit hält, das zeigt am besten ein berühmtes Gedichtfragment von Álvaro de Campos. So konnte man in Georg Rudolf Linds deutscher Übersetzung, welche genau dem Text der alten Ausgabe des Lissabonner Atica-Verlages folgt, folgende Verse lesen:
Ich legte die Maske ab und besah mich im Spiegel.
Wieder war ich das Kind von einst.
Ich hatte mich nicht verändert . . .
Das ist der Vorteil, wenn man die
Maske ablegen kann.
Man ist immer das Kind
und die Vergangenheit,
die das Kind erlebte.
Ich legte die Maske ab und setzte sie wieder auf.
So ist es besser,
so ohne Maske. [Assim sem a máscara.]
Ich kehre zurück zur Persönlichkeit [personalidade] wie zur Endstation.
Vergangenheit und Gegenwart, das Kind von einst und das reflektierende Ich von heute scheinen ebenso klar voneinander geschieden zu sein wie die Außenwelt von der Innenwelt, die oberflächlich auf das Gesicht gelegte Maske vom eigentlichen Kern der Persönlichkeit, der sich zwar zeitweilig dahinter verbirgt, aber stets erreichbar bleibt. Übersetzt man die letzten Verse jedoch nach Cleonice Berardinellis kritischer Edition aus dem Jahre 1990, dann ist es um die Grenzen des Ichs geschehen, dann verschmelzen Antlitz und Larve, dann hat sich der Fetisch der Persönlichkeit in die alltägliche Gewöhnlichkeit der Maskierung verflüchtigt:
Man ist immer das Kind,
die Vergangenheit, die bleibt,
das Kind.
Ich legte die Maske ab und setzte sie wieder auf.
So ist es besser.
So bin ich die Maske. [Assim sou a máscara.]
Ich kehre zurück zur Normalität [nor-
malidade] wie zur Endstation.
Nur in der Vielfalt der Masken erscheint Fernando Pessoas wahres Gesicht.
Fernando Pessoa: "Briefe an die Braut". Aus dem Portugiesischen übersetzt von Georg Rudolf und Josefina Lind. Ammann Verlag, Zürich 1995. 203 S., geb., 25,- DM.
Fernando Pessoa: "Politische und soziologische Schriften". Hrsg. von Brunello De Cusatis. Aus dem Portugiesischen übersetzt von Robert Rill. Karolinger Verlag, Wien/ Leipzig 1995. 210 S., geb., 36,- DM.
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