Das Memelland - faszinierend und doch noch weitgehend unbekannt. Eine von vielen Völkern geprägte europäische Kulturlandschaft, die alle Schrecken des 20. Jahrhunderts durchlebt hat. Das nördliche Ufer gehört zur Republik Litauen, das südliche ist Teil der russischen Exklave Kaliningrad. Der Fotograf Martin Rosswog und die Autorin Ulla Lachauer porträtieren in Sowjetsk (dem früheren Tilsit) Litauer, Russen, Ukrainer und Deutsche und halten Geschichten fest von einem späten, hoffnungsvollen Aufbruch.
Den meisten Menschen geht es gewiss nicht anders, als es anfangs Ulla Lachauer erging, wie sie in ihrem Einführungstext gesteht. Vor allem für die junge Generation haben es die Zeit und die politischen Veränderungen auf der europäischen Landkarte mit sich gebracht, dass das Memelland aus ihrem Blickfeld verschwunden ist, und nur wer sich intensiv mit Geschichte beschäftigt, wird wissen, dass in der memelländischen "Hauptstadt" Tilsit 1807 jener Friede geschlossen wurde, durch den Preußen für seine tollkühnen Pläne gegen Napoleon mit einem gewaltigen Gebietsverlust bezahlte. Danach wurde es still auf diesem Stück Erde - ein Grenzland zwischen den Mächten ohne eigene Identität und ohne auffällige Reize. So gesehen erscheint es fast verwegen, dass Ulla Lachauer zusammen mit dem Fotografen Martin Rosswog ausgerechnet diesen Landstrich zum Gegenstand einer "Untersuchung" machte. Aber das Ergebnis ist faszinierend. Zunächst die Bilder: Sie zeigen eine kleine, bescheidene Welt, wie sie im gutsituierten Westen längst Vergangenheit ist, bewohnt von Menschen, die sich auf ein hartes, ärmliches Leben eingerichtet haben. Der Fotograf versucht dabei, nicht zu romantisieren, sondern dokumentiert mit kühler Distanz, und gerade deshalb erzeugt er berührend intensive Eindrücke. Dann Rosswogs Tagebuchaufzeichnungen: In einem einfachen Ton gehalten, korrespondieren sie stilgerecht mit den Fotos und verknüpfen die Schicksale diesseits und jenseits der Memel mit den nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gewaltsam geschaffenen Verhältnissen. Sicher ist dieses Buch nicht jedermanns Sache, denn es ist kein Hochglanzprodukt üblicher Art, es sind keine Attraktionen zu finden, und es gibt nichts Dramatisches. Lehrreich jedoch ist es allemal, und jene, die im Memelland ein Stück Heimat erkennen, werden Text und Bild nicht ohne Wehmut wahrnehmen.
tg
"Menschen an der Memel" von Martin Rosswog und Ulla Lachauer. Edition Braus, Heidelberg 2009. 120 Seiten, 85 Abbildungen. Gebunden, 35 Euro.
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