Über den Widerstandskreis um die Geschwister Scholl und Alexander Schmorell ist bereits viel geschrieben worden. Eine Würdigung aus wissenschaftskritischer Perspektive fehlte jedoch bisher. Sönke Zankel legt nun eine erste wissenschaftliche Gesamtdarstellung der so genannten »Weissen Rose« vor, die nicht nur die Motive der Studenten, sondern auch ihr Umfeld hinreichend durchleuchtet. Bereits 2006 hat er einen Teil seiner Forschungsergebnisse in dem ebenfalls im Böhlau Verlag erschienenen Band »Die Weisse Rose war nur der Anfang. Geschichte eines Widerstandskreises« ( ISBN 978-3-412-09206-1) veröffentlicht. Die nun vorliegende Publikation ermöglicht durch umfangreiche biographische Studien der Widerstandskämpfer, vor allem aber durch die Aufarbeitung ihres ideengeschichtlichen Hintergrunds eine ganzheitliche Wahrnehmung des Phänomens. Sie bietet eine umfassende Analyse aller Flugblätter und geht systematisch der Frage nach, inwieweit der Kreis durch verschiedene Mentoren beeinflusst wurde. Erstmals wird auch das Helferumfeld der Münchner Studenten in den Blick genommen. Nicht zuletzt ist es durch die Erforschung der Wirkungsgeschichte des Kreises gelungen, mehrere Widerstandsaktionen aufzuspüren, die der bisherigen Forschung verborgen geblieben waren.
Sönke Zankel will die Widerstandsgruppe "Weiße Rose" entmythologisieren und entsymbolisieren
Als Sönke Zankel seine Forschungsergebnisse über die Münchener Widerstandsgruppe unter dem Titel "Die Weiße Rose war nur der Anfang" (2006) veröffentlichte, gab es zumeist harsche Kritik. Nun legt er nach mit einer mehr als doppelt so umfangreichen Darstellung, ergänzt um eigene Kapitel zu den Mentoren, zur "politischen Einordnung" und zu den Nachfolgeaktionen. Was Vielfalt, Vollständigkeit und Neuartigkeit der herangezogenen Quellen betrifft, erwirbt sich der Autor unbestreitbare Verdienste, ebenso wie bei seiner eingehenden Diskussion der Sekundärliteratur, die allerdings durchweg mit einem abschätzigen Verdikt endet. Beharrlich, beinah dogmatisch weigert er sich, die Widerstandsgruppe - wie im allgemeinen Sprachgebrauch auch aus Gründen der willkommenen Symbolwirkung üblich - "Weiße Rose" zu nennen. Seine Begründung, dass nur die ersten vier der insgesamt sechs Flugblätter sich explizit auf die "Weiße Rose" bezogen hätten, ist dafür wenig stichhaltig. Deutlich wird dessen ungeachtet, dass wieder einmal die schon seit einigen Jahrzehnten beliebte "Entmythologisierung" und "Entsymbolisierung" von "Helden des Widerstandes" ansteht, für die sich - im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Begründung einer Widerstandstradition in der frühen Bundesrepublik - die seinerzeit mit vielen heroisierenden Beiwörtern bekränzte "Weiße Rose" im besonderen Maße anbietet.
Dass Zankel damit längst geöffnete Türen einrennt, hat man ihm bereits nach der Vorabpublikation mehrfach bescheinigt. Gleiches gilt für Zankels irrigen Weg, wenn er eine - dem Wandel von Formen- und Wertevorstellungen geschuldete und zum Verständnis vergangener Wirklichkeiten auch notwendige - "Entmythologisierung" von historischen Personen, ihren Vorstellungen und Handlungen über weite Strecken mit deren "Skandalisierung" und weitgehender "Entwertung" zu erreichen glaubt. Wieder erscheinen die Gefährten des Scholl-Kreises in Zankels Diktion in großen Teilen als betont nationalistische, antijudaistische beziehungsweise antisemitische, einem archaischen Frauenbild nachhängende, "antidemokratische", ja "konterrevolutionäre" Mitglieder einer intellektuellen elitären Clique, die lange Zeit überdies überzeugte Anhänger der nationalsozialistischen Herrschaft gewesen waren. Ihre Wendung gegen das Regime habe sich an einem unklaren, durchgängig nicht politisch verstandenen Freiheitsbegriff orientiert, keinesfalls aber an prinzipiell "demokratischen" oder "internationalen" Motiven. Ihr Widerstand habe sich in sechs, zuweilen unter der Wirkung von Aufputsch- oder Betäubungsmitteln ausgeführten Flugblattaktionen erschöpft. Die Gruppe sei durch die umfassende Aussagebereitschaft der verhafteten Widerständler gegenüber der Gestapo rasch zerschlagen worden und ohne nennenswerte Wirkung geblieben.
Zankels eigenwilliger Umgang mit seinen Materialien, der allzu häufig die erlernten Methoden wissenschaftlicher Quellenkritik gründlich außer Acht lässt, wird bei der Fülle der aufbereiteten Unterlagen nun in seinem ganzen Ausmaß deutlich. Unzureichend begründbare Annahmen wandeln sich im nächsten Satz zu bewiesenen Fakten, aus dem Fehlen bestimmter Sachverhalte in den Dokumenten werden völlig unbegründete Schlüsse gezogen, und alles dient dann zur Untermauerung spektakulärer Thesen. Oder für manches sensationell daherkommende "Forschungsergebnis", wie den angeblichen Drogenkonsum der Geschwister Scholl vor der letzten Flugblattaktion, bleibt der Verfasser einen direkten Beweis überhaupt schuldig. Geradezu unerträglich ist Zankels hemmungslos unkritische Auswertung der Vernehmungsprotokolle der Gestapo, die er flächendeckend als wortgetreue Abbildung der damaligen Wirklichkeit für seine Zwecke einsetzt. Die persönlichen Zeugnisse der Opfer, ihrer Freunde und Angehörigen weist er dagegen durchweg als "unglaubwürdig" zurück, da deren Urheber, so weiß Zankel genau, aus Gründen der Selbststilisierung immer nur ein vorgefasstes "Erinnerungsprogramm abspulen". Die inhaltliche Authentizität der Gestapo-Protokolle glaubt der Verfasser demgegenüber allen Ernstes mit dem Hinweis auf die Unterschriften der Vernommenen nachweisen zu können. Bedenken, diese könnten unter Druck zustande gekommen sein, begegnet der Autor mit einer nicht einmal von einem Hauptbeschuldigten überlieferten Aussage, wonach sich die Gestapo "immer korrekt und höflich" benommen habe.
Zankels Darstellung entspricht folglich weitgehend den Bildern der Münchener Studenten und ihrer Gefährten, wie sie in den Akten des NS-Verfolgungsapparates aufscheinen und über die Zankel schulmeisterlich seine - als "Entmythologisierung" verpackten - zumeist negativen Bewertungsnoten verteilt. Da werden die falsche Taktik, die mangelnde Standhaftigkeit und - man höre und staune - übergroße "Auskunftsfreudigkeit" der Verhafteten vor der Gestapo getadelt, werden angebliche Schuldanteile am Todesurteil gegen den Freund minutiös registriert und allenfalls gönnerhaft eingeräumt, dass die Vernehmungssituation die Betroffenen möglicherweise "überfordert" habe. Da wird die Anprangerung der Massenvernichtung polnischer Juden im zweiten Flugblatt durch eine haarsträubende Quellenauslegung tatsächlich zum Beweis für die Hinnahme des alltäglichen "gesetzlich legitimierten Antisemitismus" umgebogen. Und da folgt dann Zankel ausdrücklich der zynischen Gestapo-Argumentation, wenn auch Zankel den aus der Wehrmacht aus "rassischen" Gründen ausgeschlossenen halbjüdischen Studenten Hans Leipelt als "privilegiert" einschätzt, da er ja nicht, wie seine "arischen" Altersgenossen, an der Front kämpfen musste.
Mit heutigen Werte- und Vorstellungswelten misst Zankel die Ideen und Handlungen der "Weißen Rose" und führt sie als politisch wie moralisch Beschädigte vor. Die Studie schließt mit den schönen Worten von Sophie Scholls früherem Verlobten Fritz Hartnagel aus dem Jahr 1947, wonach wir Nachgeborenen die Gefährten von den Denkmälern herabholen und statt in die steinernen Augen der Skulpturen in ihre lebendigen Augen blicken sollten. Dieser Aufforderung zu einem zukunftweisenden, die menschliche und politische Wahrheit in den Mittelpunkt stellenden Andenken an die "Weiße Rose" erweist dieses Buch keinen guten Dienst.
JOSEF HENKE
Sönke Zankel: Mit Flugblättern gegen Hitler. Der Widerstandskreis um Hans Scholl und Alexander Schmorell. Böhlau Verlag, Köln 2007. 600 S.
64,90 [Euro]..
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Einen kritischen Blick wirft Hans Mommsen auf Sönke Zankels Buch "Mit Flugblättern gegen Hitler", der umfangreichen Dissertationsfassung seiner vor zwei Jahren erschienenen, umstrittenen Publikation "Die weiße Rose war nur der Anfang". Der Versuch des Autors, den Widerstandskreis um Hans und Sophie Scholl zu "entmythologisieren", das angeblich zu positive Bild der "Weißen Rose" zu dekonstruieren, ist seines Erachtens auch in der vorliegenden Langfassung gescheitert. Er hat eine ganze Reihe von Einwänden, die gegen die Arbeit sprechen: Mangel an Empathie; eine zersplitternde, in eine Vielzahl von Einzelaspketen zerfallende Darstellung; Überbetonung der Heterogenität der Gruppe; Vernachlässigung des gemeinsamen moralischen Motivs und der praktischen Zielsetzung der Gruppe usw. Generell hält er dem Autor vor, zu überzogenen, spitzfindigen und willkürlichen Interpretationen zu neigen und das nötige Augenmaß vermissen zu lassen. Die These, Hans und Sophie Scholl hätten bei ihrer Flugblatt-Aktion unter Drogen gestanden, scheint ihm etwa überaus zweifelhaft. Daneben moniert Mommsen Mängel der Gliederung sowie stilistischer Natur, die die Lektüre des Buchs strapaziös machen. Positiv wertet er hingegen Zankels Ausweitung der Quellenbasis für die Geschichte der "Weißen Rose".
© Perlentaucher Medien GmbH
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