Otto Neuraths berühmtes Buch Modern Man in the Making, erstmals 1939 bei Alfred A. Knopf erschienen, beschreibt den Zustand der Welt in den 1930er-Jahren anhand von Text und figurativen Illustrationen. Ab 1925 hatten Neurath und sein Team an einer neuen Bildsprache gearbeitet, die als Isotype (International System of Typographic Picture Education) bekannt wurde. Als durch das Aufkommen der neuen Massenmedien eine bis dato unvorstellbare Menge an Informationen Verbreitung fand, erkannte Neurath die Notwendigkeit einer systematischen Visualisierung - um Fakten, statistischen Daten und Zahlenverhältnisse auf einfache Art und Weise zu erklären. Das Buch gilt als einer der einflussreichsten Vorläufer der heute allgegenwärtigen Infografiken und behandelt Themen wie Sterblichkeit, Gesundheit, Beschäftigung, Handel, Bildung, Mobilität, Migration und Demografie.Modern Man in the Making zeigt das demokratische Bestreben Neuraths, Wissen verständlich und für alle zugänglich zu machen. Es erinnert an die Fähigkeit der Grafik, zu informieren und Zusammenhänge zu schaffen, anstatt nur ästhetische Qualitäten zu präsentieren. Das Buch hat Generationen von Gestalter:innen inspiriert und zu teils kuriosen Nachahmungen und Weiterentwicklungen geführt. In der Ära der sozialen Medien, die Designschaffende zunehmend dazu zwingt, komplexe Informationen und Zusammenhänge verkürzt zu vermitteln und aufs Nötigste herunterzubrechen, wird dieses wichtige historische Bild-Text-Buch als originalgetreuer Nachdruck in der Reihe XX - The Century of Print wieder verfügbar gemacht.
Otto Neurath (1882 bis 1945) war eine führende Figur des "Wiener Kreises", dabei allerdings subtilen philosophischen Fundierungsprogrammen seiner dortigen Mitstreiter, wie sie die Analytische Philosophie prägen sollten, eher abgeneigt. Der Mann des "Roten Wien" der Zwischenkriegszeit suchte praktikablere Wege, um für seine Überzeugung zu werben, dass sich Gesellschaften zum Nutzen aller besser einrichten lassen. Eine Theorie der "Sozialisierung" der Wirtschaft gehörte etwa dazu, Programme für den Siedlungsbau, eine strikt "empirisch" verfahrende Soziologie, eine konsequent auf Praxis bezogene Deutung von Erkenntnis, der Umriss einer pragmatischen Wissenschaftstheorie - und natürlich, als Instrument für die Aufklärung über wirtschaftliche und gesellschaftliche Mechanismen, die Wiener Methode der Bildstatistik, aus der ISOTYPE hervorging, das "International System of Typographic Picture Education". Die bildpädagogischen Schriften sind in einem Band der "Gesammelten Schriften" Neuraths versammelt, auch die "visuelle Autobiographie", an der er in den letzten zwei Lebensjahren im englischen Exil arbeitete, erschien mittlerweile in einer aus den Entwürfen rekonstruierten Fassung. Aber wer sich auf bildstatistische Originalausgaben kaprizierte, der musste immer tiefer in die Tasche greifen. Für das Mappenwerk "Gesellschaft und Wirtschaft" galt das ohnehin, aber auch das 1939 bei Alfred A. Knopf in New York erschienene Text-Bild-Buch "Modern Man in the Making" wurde zum teuer gehandelten Titel. Nun aber liegt es in einer Faksimile-Edition vor, die sogar noch den Leinenband mit Silberprägung reproduziert unter dem Schutzumschlag, auf dem zu lesen war: "A book for the intelligent citizen who wants to understand the world he lives in". Es steckte darin die durch nichts zu brechende Zuversicht dieses "Gesellschaftstechnikers". HELMUT MAYER
Otto Neurath: "Modern Man in the Making".
Facsimile of the
first edition (1939).
Lars Müller Publishers, Zürich 2024. 160 S., Abb., geb., 60,- Euro.
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