Helius Eobanus Hessus (1488 - 1540) gilt bis heute als einer der berühmtesten Humanistendichter der Frühen Neuzeit. Durch einen engen Freund, der sein Leben beschrieb, entstand die erste Biographie eines deutschen Renaissancepoeten.
Der lateinische Text wird hier begleitet von einer ersten deutschen Übersetzung, einer Einleitung samit weiterführender Bibliographie und einem Kommentar.
Der lateinische Text wird hier begleitet von einer ersten deutschen Übersetzung, einer Einleitung samit weiterführender Bibliographie und einem Kommentar.
Freundesdienst: Eine Biographie aus dem sechzehnten Jahrhundert
"Die Menschen haben ja jetzt, was sie wollten: die größte Freiheit im Denken und Handeln. Nichts ist so abgeschmackt, daß das Denken es nicht zu ergreifen, die Zunge es nicht auszusprechen wagt, nichts so dreist, daß die Begehrlichkeit sich nicht daran zu machen, die Hände es nicht in Angriff zu nehmen wagen." Die Biographie des Helius Eobanus Hessus (1488 bis 1540) aus der Feder seines Freundes und Weggefährten Joachim Camerarius (1500 bis 1574) ist reich an Sätzen wie diesem; vieles klingt ähnlich aktuell, wenngleich durchaus weniger kulturpessimistisch.
Der Text aus dem Jahr 1553 ist in seiner modernen Übersetzung sprachlich wie intellektuell nach wie vor plausibel und nachvollziehbar, die Neuausgabe keineswegs nur für ein akademisches Publikum von Interesse. Es ist charakteristisch für die Gattung der Biographie in der Frühen Neuzeit, daß sie ihren Antrieb und Motivationsgrund nicht mehr in einer heiligenden oder wenigstens moralischen Vollendung des Menschen findet, sondern in der individuellen Leistung und der geselligen Interaktion, die erst diese Leistung ermöglicht.
Um dies zu dokumentieren, haben die frühen Humanisten häufig ihre Briefwechsel drucken lassen. Für Camerarius ist denn auch die Veröffentlichung von Briefen des Helius Eobanus Hessus der Anlaß, in seine eigenen Archivalien zu sehen und sich erinnernd des verstorbenen Freundes zu vergewissern: "Da schaute ich bei dieser Gelegenheit in meine Papiere, unter denen, wie ich ja wußte, Briefe Eobanus' an mich lagen. Und da fand ich mehr, als ich überhaupt geglaubt hatte, und empfand beim Wiederlesen durch die Erinnerung an die damalige Zeit und unser Zusammensein eine wunderbare Freude."
Camerarius, der späterhin führende deutsche Gräzist seiner Zeit, hatte als junger Mann den älteren Hessus im Jahr 1518 in Erfurt kennengelernt. An der dortigen Universität wirkte ein Kreis bedeutender humanistischer Gelehrter, ein Kreis, dessen weitere Verbindungen für die Lebenswege sowohl von Camerarius als auch von Hessus von entscheidendem Einfluß sein sollte. Hessus, ein Bauernsohn mit deutschem Namen Koch, der unter anderem in Erfurt, Nürnberg und Marburg lehrte, war der wichtigste neulateinische Lyriker seiner Zeit und Übersetzer Homers; zu seinen Humanistenfreunden zählten Philipp Melanchthon, Albrecht Dürer und - cum grano salis - Erasmus von Rotterdam. Die Freundschaft mit Camerarius währte bis zum Tod des Älteren.
Die Geselligkeit, an die Camerarius sich erinnert, verlangt nach einer Fortsetzung in der Schreibgegenwart. Camerarius inszeniert daher seine Hessus-Biographie als ein ständiges Zwiegespräch mit Adam Krafft, einem weiteren Humanisten und Freund, der seinerseits Hessus eng verbunden gewesen war. Die Biographie präsentiert sich vor allem als ein Geflecht persönlicher Beziehungen und Freundschaften. Die Dichte und die Qualität des sozialen Umfeldes einer Persönlichkeit entscheiden darüber, ob ein Leben als gelungen betrachtet werden kann. Freundschaften sind dabei nicht allein die stabilen Koordinaten eines Lebens in bewegter Zeit, sondern vor allem darstellerisches Mittel des Textes: Das Individuum entsteht aus seiner Differenz zu allen anderen, die ihm ähnlich sind.
Ähnlich sind vor allem die zahlreichen Humanistenfreunde, die immer wieder in den Blick geraten und deren Bedeutung für ein individuelles Leben die Biographie stets betont. Daraus entsteht eine digressive, anekdotische Struktur des Textes, eine Struktur, die romanhaft wirkt und die den Erzähler immer wieder nötigt, sich selbst zur Sache zu rufen. Vergleicht man die biographische Erzählung mit der Gedenklyrik, die den Text abschließt, dann erkennt man, wie sehr die Romanhaftigkeit eine genuine Qualität der Humanistenbiographie ist. Die Wurzeln des modernen Romans liegen nicht zuletzt in dieser literarischen Gattung.
Renaissance und Humanismus sind jene Epochen, die der Biographik eine erste Blüte bescheren, weil nun auch weltliche Personen der Memoria, des Gedenkens, würdig sind. Beweisziel der Erzählung ist nicht mehr das Exemplarische, sondern das Historische: das, was in Zeit und Raum einmalig ist. Charakterliche Schwächen eines Menschen werden konsequenterweise ebenso festgehalten wie Stärken und Leistungen.
Schon die Beschreibung der Person argumentiert mit der historischen Einmaligkeit: Hessus "war ein sehr schöner junger Mann, sein Körper war kräftig und hochgewachsen, die Gliedmaßen fein, das Gesicht ganz männlich, sein Mund streng . . . Und ich möchte kaum glauben, daß jemand von Anfang (nämlich der Welt) an gelebt habe, der in Haltung, körperlicher Beschaffenheit und Schönheit mit Eobanus verglichen, geschweige über ihn gestellt werden kann." Im Kern ist diese Behauptung skandalös: Für die christliche Tradition war es unumstößliche Gewißheit, daß in Jesus Christus der auch körperlich perfekte Mensch zu finden sei.
Doch um die Heilsgeschichte geht es der humanistischen Biographik eben nicht mehr. So erinnert sich Camerarius auch daran, wie schlecht sein toter Freund mit Geld umzugehen verstand, wie sehr er sich selbst schädigte, indem er sich als Kampftrinker gefiel. Camerarius führt dies allerdings nicht an, um wie die ältere Biographik dem musterhaften Weg von der Sünde zur Heiligung zu folgen, sondern weil es sich um historische Tatsachen handelt, die nicht unterdrückt werden dürfen. Hessus entsteht in der schreibenden Erinnerung seines Freundes als ein moderner, ein gemischter Charakter, dessen Größe und Einmaligkeit in seinen literarischen Leistungen und seinen sozialen Beziehungen zu finden sind.
Der engagierte Manutius Verlag hat hier einen Band vorgelegt, der ein spannendes Stück europäischer Identitätsgeschichte vorführt. Ein Namenregister erschließt die Biographie dem Fachpublikum, durch die Erläuterungen und vor allem seine literarische Qualität, die in einer präzisen Übersetzung zur Geltung kommt, ist der Text auch für eine breite Leserschaft erhellend: Die Gesellschaft, die Freunde sind es, die das moderne Individuum profilieren.
WOLFGANG NEUBER
Joachim Camerarius: "Narratio de Helio Eobano Hesso / Das Leben des Dichters Helius Eobanus Hessus". Lateinisch und deutsch. Mit der Übersetzung von Georg Burkard herausgegeben und erläutert von Georg Burkard und Wilhelm Kühlmann. Manutius Verlag, Heidelberg 2003. 162 S., geb., 39,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Mit Joachim Camerarius' deutsch-lateinischem Werk "Narratio de Helio Eobano Hesso / Das Leben des Dichters Helius Eobanus Hessus" wird "ein spannendes Stück europäischer Identitätsgeschichte" vorgeführt, urteilt Wolfgang Neuber. Deutlich wird anhand des Buches, das aus dem Jahre 1553 datiert, dass es die Gesellschaft und die Freunde seien, "die das moderne Individuum profilieren" - und insofern sei es nicht nur für ein akademisches Publikum interessant. Geradezu romanhafte Züge erhalte der Text durch seine "digressive, anekdotische Struktur", die immer wieder den weit verzweigten Freundeskreis - darunter einige der bedeutendsten Gelehrten jener Zeit - einbeziehe. Camerarius erzählt die Geschichte seines Freundes Helius Eobanus Hessus als ein "ständiges Zwiegespräch mit Adam Krafft, einem weiteren Humanisten und Freund". Interessant findet Neuber, wie der Autor sich um Ausgewogenheit, um Naturalismus bemühe. Neben den Stärken treten dabei auch die Schwächen eines Charakters ganz ungeschminkt hervor. So rühmt der Biograf seinem toten Freunde Eobanus zwar seine körperliche Schönheit nach, kritisiert zugleich jedoch dessen Unfähigkeit, mit Geld umzugehen, und sein autodestruktives Trinkverhalten, wie der Rezensent erzählt. Es sei ein Charakteristikum der Biographie der Frühen Neuzeit, schreibt der Rezensent, "dass sie ihren Antrieb und Motivationsgrund nicht mehr in einer heiligenden oder wenigstens moralischen Vollendung des Menschen findet". Statt dessen nehme sie den Menschen als soziales Produkt in den Blick.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH