Um nicht an die USA ausgeliefert zu werden, entführte der kolumbianische Boß des Medellinkartells, Pablo Escobar, im Jahr 1990 nacheinander neun Personen, Angehörige politisch einflußreicher Familien und Journalisten. Der Nobelpreisträger Gabriel Garcia Marquez schildert in seiner Reportage das Schicksal von zwei entführten Frauen, deren Haftbedingungen er bis ins kleinste Detail recherchierte. Er läßt den Leser an den Ängsten und Hoffnungen der Geiseln teilhaben und berichtet über die Umstände ihrer Befreiung.
García Márquez über den Drogenkrieg · Von Jochen Hieber
Der Priester hat niemand, der ihm glaubt. Was seiner Popularität keinen Abbruch tut, denn Rafael García Herreros ist zugleich ein Fernsehstar: seit 1955 tritt er unermüdlich in El Minuto de Dios (Die Minute Gottes) auf. Ein "seltsames Programm von sechzig Sekunden" sei das gewesen, notiert Gabriel García Márquez in seiner beeindruckenden Reportage "Nachricht von einer Entführung", eine Sendung, in der der Priester "eher soziale denn religöse Reflexionen anstellte, die oft kryptisch gerieten". Nun aber, im Frühsommer 1991, sollte für den bereits zweiundachtzig Jahre alten Gottesmann die große Minute seines Lebens anbrechen. Ein ganzes Volk blickt auf ihn, alle Hoffnungen gelten seiner Mission: Nachdem Politik und Polizei gescheitert sind, versucht García Herreros in zähen Verhandlungen jene Brücke zu bauen, über die der Drogenboß Pablo Escobar dann ins selbstgewählte Gefängnis schreiten kann.
Daß dessen Wahl ausgerechnet auf das "Städtische Zentrum für Drogensüchtige" einige Kilometer außerhalb von Medellín fällt, ist nur eine eher beiläufige Pointe in der auch an unwahrscheinlichen Vorkommnissen, übersinnlichen Erscheinungen und schier unglaublichen Zufällen reichen Entführungs-, Rauschgift- und Mordgeschichte, die García Márquez in all ihren Einzelheiten schildert. Vor allem Pater Herreros, der skurrile, mutige Held, wirkt dabei ganz und gar wie eine Romanfigur, direkt entsprungen dem poetischen Kosmos des kolumbianischen Nobelpreisträgers für Literatur. Den weltlichen Genüssen durchaus zugeneigt, läßt sich der Fernsehpfarrer gleichwohl ungern in Luxusrestaurants einladen - "aus Furcht, man könne glauben, er werde bezahlen." Ständig mit Schlaflosigkeit kämpfend, lehnt er gleichwohl das weiche Federkissen ab - "weil es ihm gegen Gottes Gebot zu verstoßen schien". Bevor er aber zum entscheidenden Treffen mit Escobar aufbricht, spaziert er zum Strand und ruft nicht etwa seinen Herrn im Himmel, sondern das Meer und die Wellen um Hilfe an.
Keine Frage, García Herreros ist ein Wahlverwandter jener ebenfalls schon betagten Hauptfigur, die im unsterblichen Kurzroman "Der Oberst hat niemand, der ihm schreibt" bereits 1961 die Widrigkeiten des Alltags vor allem dank eines bizarren Charakters zu meistern wußte, er ist ein Geistesbruder von Florentino Ariza, der im Romanwunder "Die Liebe in den Zeiten der Cholera" von 1986 vorführte, wie man mit List und Würde ein Leben lang auf das ganz große Ereignis zu warten vermag.
Mit Vorliebe romanhaft wird die Reportage jedenfalls, wenn Glaube und Religion ins Spiel kommen. Da ist General Miguel Maza Márquez, der Chef der Staatssicherheit: "zweitausendsechshundert Kilo Dynamit in zwei aufeinanderfolgenden Anschlägen" läßt Escobar hochgehen, um den Todfeind zur Strecke zu bringen. Beide Anschläge mißlingen, was Maza Márquez ausschließlich "dem Schutz des Heiligen Kindes" zuschreibt - den naturgemäß auch Escobar für das Mirakel in Anspruch nimmt, nicht seinerseits längst von Maza getötet worden zu sein. Escobars Schergen, junge Männer meist, deren Lebensinhalt im "Wettmorden an Polizisten" besteht, erflehen täglich die Barmherzigkeit der Heiligen und versprechen reiche Opfergaben, wenn diese ihnen "zum Erfolg bei ihren Verbrechen" verhelfen.
Operetten- und schwankartige Szenen kommen hinzu. Über Wochen und Monate hinweg, in Verstecken mitten in Bogotá oder Medellín, in Landsitzen der Provinz oder abgelegenen Behausungen in den Bergen hält das Drogenkartell seine Geiseln gefangen. Aber das häusliche Leben der Wächter und ihrer Familien bleibt davon nahezu unberührt. Ungeniert wird weiter Besuch empfangen, den man umstandlos mit den Entführten bekannt macht, die Kinder bringen ihre Freunde mit, Ärzte werden zu erkrankten Geiseln geholt - und es wird gefeiert, wann immer sich ein Anlaß bietet. Eine der Entführten hat Geburtstag: Mit der Herzlichkeit guter Gastgeber tischen die Hausbesitzer Champagner auf. Vor Weihnachten wird neun Tage lang Andacht gehalten, man singt, verteilt Süßigkeiten. An Silvester gibt es einen bunten Abend mit den Gekidnappten - drei Wochen danach wird eine der Geiseln, die durch ihre hysterische Euphorie, also aus Todesangst, viel zur guten Silvester-Stimmung beigetragen hatte, kaltblütig exekutiert.
Es ist diese Mischung aus folkloristischer Gemütlichkeit und vollkommen fragloser Gewalt, die das Buch so beklemmend macht. Mit der Nüchternheit des faktentreuen Chronisten, der Beharrlichkeit des recherchierenden Journalisten und zugleich mit dem selbstverständlichen Stilvermögen eines großen Autors hat García Márquez die Entführungs- und Erpressungsorgie rekonstruiert, die 1990 eine Zeitlang auch die Öffentlichkeit hierzulande in Atem hielt, um über all den anderen Katastrophen bald wieder in Vergessenheit zu geraten. Den erzählerischen Qualitäten zum Trotz ist aus dem Buch jedoch mit Bedacht kein Roman geworden. Entstanden ist vielmehr das solide Meisterstück eines Reporters, der sein Handwerk Mitte der fünfziger Jahre bei der liberalen Zeitung El Espectador in Bogotá erlernte und im Lauf seiner einzigartigen literarischen Karriere ein ums andere Mal zu ihm zurückkehrte, zuletzt 1988 in dem Band "Die Abenteuer des Miguel Littin", einer Bilanz über das Chile der Obristen.
Ein Grund für das stupende Gelingen fast all seiner Arbeiten ist García Márquez' untrügliches Gespür, zu seinen Stoffen jeweils den angemessenen Stil und die adäquate Form zu finden: Sehr zu Recht hat man deshalb von der musa camaleónica, von der vielfarbig schillernden Muse dieses Autors gesprochen. Im Fall der Entführung von zehn Journalisten, durch die sich Escobar und die Helfershelfer seines Staats im Staate gegenüber der Regierung Kolumbiens als gleichrangige Verhandlungspartner etablieren konnten, verbot sich literarische Überhöhung von vornherein. Denn diese Geschichte war schiere und schreckliche Wirklichkeit, nichts sonst. Sie birgt keinerlei Momente und Motive, die über sie hinauswiesen, sie hat keinen doppelten Boden. Und sie ist schlimme Realität geblieben, die sich in Variationen eines sozialen und politischen Albtraums Tag für Tag wiederholt. "Dieses Land", äußerte Sicherheitschef Maza Márquez 1990 noch hoffnungsvoll, "kommt erst wieder ins Lot, wenn Escobar tot ist." Escobar wurde Anfang Dezember 1993, eineinhalb Jahre nach der Flucht aus dem selbstgewählten Gefängnis, von einer Spezialeinheit aufgespürt und erschossen, das Medellín-Kartell zerfiel - in Kali war längst ein anderes, eher noch mächtigeres entstanden.
García Márquez bewertet das Geschehen an keiner Stelle des Buchs, er berichtet lakonisch und detailversessen lediglich, was war. Im Wechsel der Kapitel wird das fürchterliche Schicksal der Geiseln ebenso sichtbar wie die Aktionen, die ihre meist der Oberschicht angehörenden Verwandten in Szene setzen, um sie endlich freizubekommen. Der Reporter nimmt uns mit ins Amtszimmer und in die Privaträume von César Gaviria, zeigt, wie der damalige Präsident zwischen Mitgefühl und Staatsräson schwankt, um sich dann für letztere zu entscheiden. Das einzige Faustpfand, das sich Gaviria in den Unterhandlungen mit den Drogenterroristen nicht nehmen lassen kann, ist das Drohen mit der Auslieferung an die Vereinigten Staaten: "Wir ziehen ein Grab in Kolumbien einer Zelle in den USA vor", lautet Escobars Antwort.
Daß García Márquez mit derselben emphatischen Leidenschaftslosigkeit auch die juristischen Winkelzüge und die pompöse Prachtentfaltung des Drogenbosses schildert, hat ihm nach der Veröffentlichung des spanischen Originals im vergangenen Frühjahr prompt den Vorwurf eingetragen, er verharmlose, ja er verherrliche Escobar. Das ist unsinnig. Selbstverständlich ist seine Sympathie für die Opfer, bewundernswert, wie diskret und präzise er ihre Situation einfängt, ihr Vegetieren zwischen Hoffen und Bangen, ihre kleinen Überlebenstaktiken und ihre große Todesfurcht.
Ein einziger Ausländer befand sich unter den Geiseln: rein zufällig war der Lateinamerika-Korrespondent der ARD in Escobars Fänge geraten. Mit Hero Buss, der heute als Redakteur im Deutschlandfunk arbeitet, hat García Márquez in den vergangenen Wochen einige Gespräche geführt. Nein, er sehe absolut nichts, was man gegen den Rauschgifthandel in seiner Heimat unternehmen könne, meinte er resigniert, die wohl einzige Lösung, "um den Markt zusammenbrechen zu lassen, wäre die Legalisierung der Drogen". Wie ernst es führenden Intellektuellen Lateinamerikas mit dieser Position ist, machte vor einiger Zeit ein Aufruf klar, den neben Carlos Fuentes auch Mario Vargas Llosa unterzeichnete, sonst literarisch und politisch der entschiedenste Widerpart von García Márquez.
Einen Fehler Vargas Llosas wird sein kolumbianischer Gegner gewiß vermeiden: Er wird niemals in die Politik gehen und, allen Appellen zum Trotz, auch nicht für das Präsidentenamt kandidieren. Achtundsechzig Jahre ist Gabriel García Márquez jüngst geworden. Die Reportage "Nachricht von einer Entführung" zeigt ihn auf der Höhe seines Könnens. Und seine Souveränität zeigt die für deutsche Ohren und Autoren völlig ungewöhnliche Replik auf die Frage, ob er beim Schreiben an seine Leser denke: "Immer", lautet sie.
Gabriel García Márquez: "Nachricht von einer Entführung". Aus dem Spanischen übersetzt von Dagmar Ploetz. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1996. 448 S., geb., 45,- DM.
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