Évelyne Ducat verschwindet eines Tages spurlos, und das Städtchen im französischen Zentralmassiv rätselt. Es kursieren Gerüchte und Beobachtungen. Doch nicht alles wird der Polizei preisgegeben, denn hier in der abgeschiedenen Bergwelt hüten die Menschen ihre Geheimnisse. Die Sozialarbeiterin Alice hat ein Geheimnis mit ihrem Klienten Joseph, dem einsamen Schafzüchter. Und der verhält sich nach dem Verschwinden der Frau merkwürdig. Und in welcher Beziehung stand die Verschwundene zu der jungen Maribé, die eines Tages im Städtchen auftauchte und alle Blicke auf sich zog? Mit jedem Kapitel erhält eine andere Person das Wort, und ein neues Geheimnis, ein neuer Verdacht taucht auf, bis sich das Puzzle um Évelyne Ducats Verschwinden zusammenfügt. Colin Niels preisgekrönter Roman noir ist mehr als ein raffiniert konstruierter Krimi: Er gibt ebenso fesselnd Einblick in prekäre soziale Milieus und erzählt von der verzweifelten Suche nach Liebe.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Stefan Fischer ist völlig eingenommen von den Personen in Colin Niels traurigem Roman "Nur die Tiere". Niel erzählt von einsamen und misstrauischen Bauern, die keine Frauen mehr für ihr karges Leben finden und deren Unfähigkeit, einander zu begegnen, zu einer fatalen Verkettung von Ereignissen führt. Wie Niel seinen Roman konstruiert und die verschiedenen Personen in der Rückschau erzählen lässt, wann und wie sie den Lauf der Ding kreuzten, das imponiert Fischer sehr, zumal der Autor eine Sprache findet, die dem Rezensenten Zugang zu ihrem so eigensinnigen wie verschrobenen Kosmos gewährte. Wer schuld ist am Verschwinden der manipulativen Millionärsgattin interessiert ihn da nur am Rande.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.06.2021Madame will ein Kind, Monsieur einen Stall
Glauben Sie nicht alles, was Sie lesen: Colin Niel legt einen fulminanten Krimi vor, der auch von einer vermissten Frau im französischen Zentralmassiv handelt. Im Kern jedoch dreht sich alles um die Frage, ob wir Geschichten brauchen, um überhaupt existieren zu können.
Die Gebrauchsanweisung für seinen Roman "Nur die Tiere" liefert Colin Niel gleich mit den ersten Sätzen. Menschen wollten immer einen Beginn, heißt es da, sie "bilden sich ein, wenn eine Geschichte irgendwo anfängt, muss sie auch ein Ende haben". Das, was sich im Nirgendwo des französischen Zentralmassivs zugetragen habe, sei unter den Einwohnern zu einer Art Klatsch-Hit geworden, Stille-Post-Effekt inklusive. Man spinne etwas dazu, schleife hier eine Kante glatt, fräse dort ein Detail heraus. "Würd ich auch so machen", sagt eine Figur, "da hat man wenigstens was zu erzählen, jeder will irgendwas zu erzählen haben, sonst existiert man ja nicht." Will sagen: Glauben Sie nicht alles, was Sie lesen.
Damit wäre der Krimi zugunsten der Menschenseelenkunde überwunden. Ja, es geht in diesem Buch um eine vermisste Frau. Nein, die schrittweise Lösung des Falls bildet nicht das alleinige Kraftzentrum des Plots. Niel, 1976 in Clamart geboren, macht sich lieber daran, laufend über den Zusammenhang von Erzählinstinkt und Conditio humana nachzudenken. Und falls es stimmt, dass wir nur dann sind, wenn wir uns mitteilen, müssen sich seine Protagonisten keine Sorgen um ihre Existenz machen. Fünf Personen berichten nacheinander, was sie mit der verschwundenen und, das wird man ausplaudern dürfen, ermordeten Évelyne Ducat zu tun hatten. Jeder in einem eigenen Soziolekt. Jeder mit anderen narrativen Strategien. Jeder als verkappter Erzähltheoretiker.
Wer einem Roman ein solches Programm unterjubelt, muss aufpassen, nicht im Erklärstrudel über zivilisationsbildende Mythen und sinnstiftende Schöpfungsakte (am Anfang war das Wort!) abzusaufen. Denn Krimistorys und pseudoakademische Vorlesungen liegen - Fans des Genres kennen das Problem - häufig nah beieinander. Nicht so bei Niel. Er knüpft ein reißfestes Handlungsgewebe, weil er, von seinem Personal ausgehend, zwar dann und wann Reflexionen einstreut, die Allgemeingültigkeit beanspruchen können, sich aber verbietet, die Figuren in Gefäße kulturhistorisch bedeutender Ideen zu verwandeln.
Wichtiger als Selbstbeweihräucherung sind diesem Nonkonformisten unter den Whodunit-Adepten psychologisch verwahrloste Charaktere und eine von jedem Schnittmuster befreite Plotstruktur. Das hat auch Dominik Moll überzeugt, der seine Verfilmung des Stoffs 2019 bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig vorstellte.
Das Geschehen wird oft von Zufällen motiviert und kennt keinen Hoffnungsschimmer. Alice, eine Sozialarbeiterin, die sich um die Bauern der Gegend kümmert, hebt hervor: "Was wir sehen, sind zerrüttete Familien, Beziehungen, die in die Brüche gehen, weil Madame ein Kind will, Monsieur dagegen einen neuen Stall; Männer, die unter der schieren Last der Arbeit in Depressionen versinken." Der Kommunikationsfluss mit ihrem Mann Michel - auch er verdingt sich als Bauer - ist zu einem Rinnsal verkommen. Sein ebenso wortkarger Kollege Joseph sagt: "Tja, ich weiß nur, wie man mit Schafen redet." Alice verliebt sich in ihn, betrügt ihren Mann und fragt sich, ob sie sich deswegen schämen oder freuen soll.
Einmal bemerkt sie: "Wir starrten uns sekundenlang an, ich suchte in seinem Blick, der entschlossen war wie nie, nach einer Erklärung." Damit ist sie nicht allein, denn "Nur die Tiere" dreht sich um eine doppelte Suche: nach der Wahrheit über Évelyne Ducat und nach dem Wesen der Anderen. Da es letzte Antworten nicht gibt, verfolgt der Leser, wie sich die Charaktere tastend und deutend durch zwischenmenschlichen Morast schleppen und vergeblich versuchen, ihre Partner und die Wirklichkeit am Schlafittchen zu packen. Aber was sich da abzeichnet, "irgendwo zwischen Erfundenem und Übertreibungen, war eine Art Porträt der Vermissten und vielleicht gar nicht mal so weit weg von der Realität". So sagt uns die Literatur also, dass am Ende womöglich alles Literatur ist.
Niels große Kunst entfaltet sich im sparsamen Dialog, der, noch bevor er Fahrt aufnehmen kann, implodiert. Im Fall der Borderlinerin Maribé handelt es sich hingegen um explodierende Zwiegespräche. Sie sucht, wie ihre Mitstreiter, nach Nähe und will von den richtigen Worten zum richtigen Zeitpunkt wie von einem Kokon umfangen werden. Zugleich torpediert sie diese Bedürfnisse, indem sie eine Liaison mit der verheirateten Évelyne Ducat eingeht und dabei von einem Subjekt zu einem Objekt schrumpft: Die eine diktiert die Termine, zu denen man sich trifft, die andere fügt sich in eine selbstzerstörerische Abhängigkeit und nimmt "die paar Krümel Liebe und flüchtigen Freuden, die sie mir gewährte wie einem ausgesetzten Tier die Futterration".
So führen die Figuren einen Reigen aus "Wut, Traurigkeit, Hass und Liebe, Verständnislosigkeit und Schuld" auf. Im vorletzten Kapitel - Schauplatz ist die Elfenbeinküste - reduziert der Autor jedoch das psychologische Raffinement, um die Hintergründe des Geschehens zu erhellen. Das Buch ist deswegen nicht vermurkst, aber die Dynamik menschlichen, allzumenschlichen Gebarens zugunsten einer erzählökonomisch eher faden Ursache-Wirkungs-Kette aufgelöst. Muss nun eine Geschichte, die irgendwo anfängt, auch einen Schluss haben? Gewiss, die Geschichte um Évelyne Ducat allerdings bäumt sich auf den letzten Seiten noch einmal auf und nimmt eine neue Richtung. Ende offen.
KAI SPANKE
Colin Niel: "Nur die Tiere". Roman.
Aus dem Französischen von Anne Thomas.
Lenos Verlag, Basel 2021.
286 S., br., 22.- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Glauben Sie nicht alles, was Sie lesen: Colin Niel legt einen fulminanten Krimi vor, der auch von einer vermissten Frau im französischen Zentralmassiv handelt. Im Kern jedoch dreht sich alles um die Frage, ob wir Geschichten brauchen, um überhaupt existieren zu können.
Die Gebrauchsanweisung für seinen Roman "Nur die Tiere" liefert Colin Niel gleich mit den ersten Sätzen. Menschen wollten immer einen Beginn, heißt es da, sie "bilden sich ein, wenn eine Geschichte irgendwo anfängt, muss sie auch ein Ende haben". Das, was sich im Nirgendwo des französischen Zentralmassivs zugetragen habe, sei unter den Einwohnern zu einer Art Klatsch-Hit geworden, Stille-Post-Effekt inklusive. Man spinne etwas dazu, schleife hier eine Kante glatt, fräse dort ein Detail heraus. "Würd ich auch so machen", sagt eine Figur, "da hat man wenigstens was zu erzählen, jeder will irgendwas zu erzählen haben, sonst existiert man ja nicht." Will sagen: Glauben Sie nicht alles, was Sie lesen.
Damit wäre der Krimi zugunsten der Menschenseelenkunde überwunden. Ja, es geht in diesem Buch um eine vermisste Frau. Nein, die schrittweise Lösung des Falls bildet nicht das alleinige Kraftzentrum des Plots. Niel, 1976 in Clamart geboren, macht sich lieber daran, laufend über den Zusammenhang von Erzählinstinkt und Conditio humana nachzudenken. Und falls es stimmt, dass wir nur dann sind, wenn wir uns mitteilen, müssen sich seine Protagonisten keine Sorgen um ihre Existenz machen. Fünf Personen berichten nacheinander, was sie mit der verschwundenen und, das wird man ausplaudern dürfen, ermordeten Évelyne Ducat zu tun hatten. Jeder in einem eigenen Soziolekt. Jeder mit anderen narrativen Strategien. Jeder als verkappter Erzähltheoretiker.
Wer einem Roman ein solches Programm unterjubelt, muss aufpassen, nicht im Erklärstrudel über zivilisationsbildende Mythen und sinnstiftende Schöpfungsakte (am Anfang war das Wort!) abzusaufen. Denn Krimistorys und pseudoakademische Vorlesungen liegen - Fans des Genres kennen das Problem - häufig nah beieinander. Nicht so bei Niel. Er knüpft ein reißfestes Handlungsgewebe, weil er, von seinem Personal ausgehend, zwar dann und wann Reflexionen einstreut, die Allgemeingültigkeit beanspruchen können, sich aber verbietet, die Figuren in Gefäße kulturhistorisch bedeutender Ideen zu verwandeln.
Wichtiger als Selbstbeweihräucherung sind diesem Nonkonformisten unter den Whodunit-Adepten psychologisch verwahrloste Charaktere und eine von jedem Schnittmuster befreite Plotstruktur. Das hat auch Dominik Moll überzeugt, der seine Verfilmung des Stoffs 2019 bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig vorstellte.
Das Geschehen wird oft von Zufällen motiviert und kennt keinen Hoffnungsschimmer. Alice, eine Sozialarbeiterin, die sich um die Bauern der Gegend kümmert, hebt hervor: "Was wir sehen, sind zerrüttete Familien, Beziehungen, die in die Brüche gehen, weil Madame ein Kind will, Monsieur dagegen einen neuen Stall; Männer, die unter der schieren Last der Arbeit in Depressionen versinken." Der Kommunikationsfluss mit ihrem Mann Michel - auch er verdingt sich als Bauer - ist zu einem Rinnsal verkommen. Sein ebenso wortkarger Kollege Joseph sagt: "Tja, ich weiß nur, wie man mit Schafen redet." Alice verliebt sich in ihn, betrügt ihren Mann und fragt sich, ob sie sich deswegen schämen oder freuen soll.
Einmal bemerkt sie: "Wir starrten uns sekundenlang an, ich suchte in seinem Blick, der entschlossen war wie nie, nach einer Erklärung." Damit ist sie nicht allein, denn "Nur die Tiere" dreht sich um eine doppelte Suche: nach der Wahrheit über Évelyne Ducat und nach dem Wesen der Anderen. Da es letzte Antworten nicht gibt, verfolgt der Leser, wie sich die Charaktere tastend und deutend durch zwischenmenschlichen Morast schleppen und vergeblich versuchen, ihre Partner und die Wirklichkeit am Schlafittchen zu packen. Aber was sich da abzeichnet, "irgendwo zwischen Erfundenem und Übertreibungen, war eine Art Porträt der Vermissten und vielleicht gar nicht mal so weit weg von der Realität". So sagt uns die Literatur also, dass am Ende womöglich alles Literatur ist.
Niels große Kunst entfaltet sich im sparsamen Dialog, der, noch bevor er Fahrt aufnehmen kann, implodiert. Im Fall der Borderlinerin Maribé handelt es sich hingegen um explodierende Zwiegespräche. Sie sucht, wie ihre Mitstreiter, nach Nähe und will von den richtigen Worten zum richtigen Zeitpunkt wie von einem Kokon umfangen werden. Zugleich torpediert sie diese Bedürfnisse, indem sie eine Liaison mit der verheirateten Évelyne Ducat eingeht und dabei von einem Subjekt zu einem Objekt schrumpft: Die eine diktiert die Termine, zu denen man sich trifft, die andere fügt sich in eine selbstzerstörerische Abhängigkeit und nimmt "die paar Krümel Liebe und flüchtigen Freuden, die sie mir gewährte wie einem ausgesetzten Tier die Futterration".
So führen die Figuren einen Reigen aus "Wut, Traurigkeit, Hass und Liebe, Verständnislosigkeit und Schuld" auf. Im vorletzten Kapitel - Schauplatz ist die Elfenbeinküste - reduziert der Autor jedoch das psychologische Raffinement, um die Hintergründe des Geschehens zu erhellen. Das Buch ist deswegen nicht vermurkst, aber die Dynamik menschlichen, allzumenschlichen Gebarens zugunsten einer erzählökonomisch eher faden Ursache-Wirkungs-Kette aufgelöst. Muss nun eine Geschichte, die irgendwo anfängt, auch einen Schluss haben? Gewiss, die Geschichte um Évelyne Ducat allerdings bäumt sich auf den letzten Seiten noch einmal auf und nimmt eine neue Richtung. Ende offen.
KAI SPANKE
Colin Niel: "Nur die Tiere". Roman.
Aus dem Französischen von Anne Thomas.
Lenos Verlag, Basel 2021.
286 S., br., 22.- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Ein umwerfender polyphoner Roman noir über die Einsamkeit im ländlichen Frankreich von heute." (Le Soir)