Das Dorf St. Antönien liegt malerisch in einem Seitental des Prättigaus im Kanton Graubünden. Jahrhundertelang war es von verheerenden Lawinenniedergängen betroffen. Von 1953 bis 1977 wurde schliesslich oberhalb des Dorfs auf Höhen von 1950 bis 2400 Metern über Meer eine der grössten Lawinenschutzverbauung der Schweiz errichtet: Auf einer Länge von 12 280 Metern wurden Stahl- und Betonelemente verbaut, bis 2008 kamen weitere 4250 Meter dazu.Die fotografische Dokumentation des Architekten und Fotografen Kaspar Thalmann zeigt die ästhetisch extrem landschaftsprägenden Verbauungen und den Bannwald im Sommer und im Winter. Oder das Tal aufgeben beschäftigt sich mit brisanten Fragen rund um die Lebensraumsicherung für den Menschen, den Landschafts- und Naturschutz in den Alpen, den Wert sogenannter potenzialarmer Regionen und des Tourismus. Lohnte sich der Aufwand? Oder hätte man das Tal aufgeben sollen?Nach einer Einführung von Nadine Olonetzky geben der NZZ-Redaktor Stefan Hotz in seiner Geschichte der Lawinenverbauung in St. Antönien und der Journalist und Soziologe Köbi Gantenbein in seinem Essay über die Auswirkung der Bauten auf das Alltagsleben die Antworten.
Ein Menschenleben, fünfzig tote Kühe und zweiundvierzig zerstörte Häuser, das war die Bilanz des Lawinenwinters 1951 in der Gemeinde St. Antönien. Abhilfe sollte her, musste her, weil die Lawine den letzten Rest Bannwald erledigt hatte. Und so kam es in den folgenden fünf Jahrzehnten zu jener gigantischen Lawinenschutzverbauung, die zum Wahrzeichen der im Schweizer Kanton Graubünden liegenden Streusiedlung wurde. Dieser Schutz war in jeder Hinsicht teuer erkauft, wie der Architekt und Fotograf Kaspar Thalmann anhand von eindrucksvollen Bildern belegt (Kaspar Thalmann: "Oder das Tal aufgeben". Die Lawinenschutzbauten von St. Antönien. Scheidegger & Spiess Verlag, Zürich 2015. 128 S., Abb., geb., 48,- [Euro]). Sechzehn Kilometer übermannshohe Stahl- und Betonzäune in einer Seehöhe von mehr als zweitausend Metern sichern die Südflanke des Chüenihorns und damit neunzig Gebäude im Tal, daneben wurden fünfzig Hektar Wald mit knapp einer halben Million Setzlingen wiederaufgeforstet. So beantwortete man mit vielen Millionen Franken die Frage nach Bleiben oder Gehen. Und hat heute hohe Folgekosten zu schultern, weil die Fertigbetonteile saniert werden müssen: Wirksamen Schutz gibt es nur, wenn die Zäune vollständig intakt sind. Eine zweischneidige Entscheidung: Das Tal gilt als "potenzialarmer Raum", seit Anfang 2016 ist die Selbständigkeit Geschichte. St. Antönien ist jetzt ein Ortsteil von Luzein. Nur sein Wahrzeichen bleibt. (hhm)
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