Im Zweiten Weltkrieg arbeiteten Millionen Zwangsarbeiter aus Ost- und Südosteuropa für die deutsche Kriegswirtschaft. Die Formen ihrer zumeist gewaltsamen Anwerbung für die Arbeit im Deutschen Reich, aber auch der Einsatz der "Arbeitspflichtigen" in ihrer Heimat sind bislang kaum erforscht. Die eroberten Gebiete Polens und Serbiens galten als Modell für den unterschiedlichen Zugriff der Besatzungsmacht auf die unterworfene Bevölkerung. Praxis und Ausmaß der Zwangsrekrutierungen führten zur Destabilisierung der unterworfenen Gesellschaften und ließen gerade die Arbeitsverwaltungen in diesen Ländern zu den am meisten verhassten Repräsentanten der Besatzungsherrschaft werden.In drei Studien zum Warthegau, dem Generalgouvernement und zu dem deutschen Militärverwaltungsgebiet Serbien werden erstmals das System der Zwangsrekrutierungen und die Rolle der am Verfolgungsprozess beteiligten staatlichen Stellen eingehend untersucht. Dabei gehen die Autoren der Frage nach, inwiefern das Handeln der Besatzer von ideologisch-rassistischen Zielen bestimmt war und wie regionale Herrschaftskonstellationen zu einer Radikalisierung der Rekrutierungen beitrugen. Ein Vergleich zwischen den drei Regionen kommt zu dem Schluss, dass sich die Arbeitskräftepolitik im Verlauf des Krieges immer stärker am Primat der kurzfristigen wirtschaftlichen Mobilisierung der Besatzungsgebiete orientierte. Zu keinem Zeitpunkt gelang es den Besatzern, die Arbeitsmärkte effektiv zu steuern oder die Interessengegensätze innerhalb der Kriegswirtschaften auszubalancieren. Den betroffenen Bevölkerungen standen unterschiedliche Überlebensstrategien zur Verfügung - das System der Zwangswirtschaft konnte jedoch erst durch die militärische Niederlage der Nationalsozialisten von außen beseitigt werden.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Nicht gänzlich zufrieden ist Lars Lüdicke mit der vergleichenden Studie von Florian Dierl, Zoran Janjetović und Karsten Linne zur Zwangsarbeit im "Dritten Reich" und ihren regional unterschiedlichen Zielsetzungen und Praktiken. Die auf breiten Archivstudien basierende Arbeit verdeutlicht dem Rezensenten zwar, dass der Radikalisierungsprozess nicht linear und die Kompetenzen im Zusammenhang mit der organisierten Zwangsarbeit alles andere als klar waren, allerdings erscheint Lüdicke die Untersuchungsebene allzu kleinteilig und zu wenig kontexualisiert. Die Bedeutung der hier in den Blick genommenen besetzten Gebiete für die Kriegswirtschaft etwa wird für ihn nicht deutlich genug herausgearbeitet. Daran, dass der Band eine Forschungslücke schließt, zweifelt Lüdicke jedoch nicht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Unter deutscher Besatzung
Spät, für viele Betroffene zu spät, brachte die deutsche Politik die "Entschädigung" für ehemalige Zwangsarbeiter des nationalsozialistischen Regimes auf den Weg - und spät begann auch die Geschichtswissenschaft, das Thema Zwangsarbeit im Nationalsozialismus aufzuarbeiten. So wurde erst mehr als 50 Jahre nach Kriegsende die "Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" institutionalisiert, die zwischen 2001 und 2007 die Ausgleichszahlungen an ehemalige Zwangsarbeiter und andere Opfer des NS-Staates geleistet hat; fortgesetzt wird die Forschungsförderung, der sich etwa die Entstehung dieses Bandes verdankt. Konzentriert auf das sogenannte "Reichsgau Wartheland", das "Generalgouvernement" sowie das deutsche Militärverwaltungsgebiet Serbien, untersuchen die Autoren drei Gebiete unter deutschem Besatzungsregime. Die Vergleichsperspektive nimmt bewusst Regionen in den Fokus, die nach unterschiedlichen "Besatzungskonzepten" beherrscht werden sollten. In der Realität jedoch, so ein Ergebnis, "schien die deutsche Besatzungspraxis mit ihren Improvisationen, kurzfristig und häufig widersprüchlichen Regelungen in vieler Hinsicht eher einem ,organisierten Chaos' als einem zielgerichteten Herrschaftssystem ähnlich zu sein".
Basierend auf breit angelegten Archivstudien, beschränken sich die Autoren nicht auf eine Darstellung der Zwangsarbeitergeschichte, sondern sie nehmen auch Abweichungen in Zielsetzung, Praxis und Wirkung in den Blick. Dabei wird zweierlei deutlich: Einerseits waren die planmäßigen "Unterschiede zwischen den Besatzungsregimen" vor allem in den "ideologischen und strategischen Zielsetzungen des NS-Regimes" begründet; andererseits war die reale "Arbeitskräftepolitik" im Verlauf des Krieges und im Ergebnis eines keineswegs linear verlaufenen Radikalisierungsprozesses, den teilweise ein regelrechtes Kompetenzwirrwarr von Dienststellen und Behörden kennzeichnete, "immer stärker am Primat der kurzfristigen wirtschaftlichen Mobilisierung der Besatzungsgebiete" orientiert. Den Besatzern gelang es demnach jedoch zu keinem Zeitpunkt, "die Arbeitsmärkte effektiv zu steuern oder die Interessengegensätze innerhalb der Kriegswirtschaften auszubalancieren".
Doch hinter solchen nüchternen Ergebnissen verschwinden keineswegs die Akteure, die an den "Sklavenjagden" beteiligt waren und die in Kurzporträts beispielhaft beleuchtet werden. Aufschlussreicher als in Beschwerden kann sodann auch das Schicksal der Zwangsarbeiter nicht deutlich werden - etwa wenn selbst Mitwirkende an der verbrecherischen Politik darauf hinwiesen, dass die Zustände in den Zwangsarbeitslagern "auf die Dauer im Interesse des Arbeitseinsatzes nicht tragbar" seien. Schlaglichtartig bündelt sich in solchen Meldungen zugleich, dass die "Zwangsarbeitslogik" nicht in der "Kriegslogik" aufging, auch wenn die Bedeutung der Zwangsarbeit, wie die Autoren insinuieren, weit höher eingeschätzt werden muss als bisweilen angenommen wird. So mag die "Arbeitskraft der Opfer" bei der Errichtung des jüdischen Gettos Litzmannstadt/Lódz im "Zentrum des Interesses" gestanden haben - dennoch wurden die jüdischen Zwangsarbeiter auch dieses Gettos, das sich zu einem wichtigen Produktionsort für Rüstungsgüter entwickelt hatte, in die Vernichtungslager deportiert und ermordet. Die Erklärung im Sinne der "Intentionalisten" lautet: Die Shoa, die Ermordung der Juden, folgte ihrer eigenen Verbrechenslogik und hatte in Hitlers genozidalem "Erlösungsantisemitismus" (Saul Friedländer) ihren ursächlichen Antrieb.
In dieser Bemerkung ist bereits die etwas zu kleinteilige Untersuchungsebene angedeutet: Die Autoren schließen zwar eine Forschungslücke, indem sie mit einer sehr detailreichen Vergleichsperspektive zu neuen Erkenntnissen über die "Binnengeschichte" der Zwangsarbeit gelangen. Wünschenswert aber wäre eine noch stärkere Kontextualisierung gewesen, die schärfer die jeweilige Bedeutung der besetzten Gebiete für die deutsche Kriegswirtschaft, die Rückwirkung des Kriegsverlaufes auf das Zwangsarbeitssystem und den Bedingungsrahmen von weltanschaulicher "Polyvalenz" und mörderischer Praxis einzubeziehen hätte. Denn auch wenn das erklärte Forschungsinteresse dem Zwangsarbeitersystem gilt: den von der Forschung analysierten "Konzeptionenpluralismus" auf die Formel einer "von den Nationalsozialisten angestrebten ,Neuordnung Europas'" zu komprimieren oder die Genesis der "Endlösung" gänzlich auszusparen und lediglich auf "Entscheidungen" zu verweisen, die schon bei der Wannsee-Konferenz vom 20. Januar 1942 getroffen worden" seien, nimmt dem Thema ein Stück seines Erklärungspotentials.
LARS LÜDICKE
Florian Dierl/Zoran Janjetovic/Karsten Linne: Pflicht, Zwang und Gewalt. Arbeitsverwaltungen und Arbeitskräftepolitik im deutsch besetzten Polen und Serbien 1939-1944. Klartext Verlag, Essen 2013. 510 S., 34,95 [Euro].
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