Produktdetails
- Verlag: WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft)
- ISBN-13: 9783534130542
- Artikelnr.: 25157405
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Arno Baruzzis ausufernde Philosophie des Alsob
Wenigstens liegt Arno Baruzzis Büchlein nicht im Trend: das wird es für alle Selbstdenker attraktiv machen. Im Trend liegen dagegen immer noch Betrachtungen über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn, Botschaften wie die vom "sogenannten Bösen" (Konrad Lorenz). Sie sind inzwischen etabliert im philosophischen Paradigma der "evolutionären Erkenntnistheorie". Das Böse ist nicht böse, sondern ein zwar unangenehmer, bisweilen tödlicher, aber insgesamt nützlicher Aspekt des Lebens. Leben heißt lügen. Wer leben will, braucht die Lizenz zum Lügen. Mimikry ist ein Anpassungsvorteil im evolutionären Kampf.
In den Debatten um die evolutionäre Erkenntnistheorie scheiden sich die Geister bei der Frage, ob der Mensch ein Mensch oder ein Tier ist. Es ist daher naheliegend, daß Baruzzis Kritik bei der philosophischen Anthropologie ansetzt. Die Frage, was uns von unseren tierischen Verwandten unterscheidet, ist seit Genesis 2 ein Königsweg der Selbsterkenntnis. Die Frage "Was ist der Mensch?" ist eine von Kants "großen Fragen".
Adam ist wie die Tiere aus Lehm erschaffen, aber nur ihm wird der göttliche Atem eingeblasen. Er darf sogar an die Seite des Schöpfers treten und den Tieren Namen geben. Der Mensch ist das "Lebewesen, das Sprache hat", das wußte schon Aristoteles, und das weiß auch Baruzzi. Der aber ist kein Spezialist auf diesem Gebiet, sonst könnte er Tatsachen ansprechen, die zum Sprachspiel der Biologie gehören, aber aus ihm herausführen.
Ohne genau zu vermessen, wo der Grenzfluß zwischen Mensch und Tier verläuft, kann Baruzzi immerhin feststellen: "Der Mensch aber gerade als Mensch möchte über sich hinaus und anderes und mehr werden." Diese Transgression gehört zum Menschen, macht seinen Glanz und sein Elend aus. Augustinus und Baruzzi nennen dies Lüge. "Der Mensch, der mehr haben will, lügt, hat das Lebensziel Lüge." Aber er hat nach Genesis 2 und Baruzzi auch die Freiheit, Wahrheit anzustreben. Beide, Lüge und Wahrheit, können also unter dem Aspekt der Freiheit das Ziel der Transgression sein. Baruzzi meint im Grunde eine Spielart der Transgression, wenn er von Lüge spricht. Ob diese weitgefaßte Definition aber hilfreich ist? Sie entfernt sich völlig vom normalsprachlichen Verständnis, nach welchem "Lügen" nun einmal ein Sprechakt ist: derjenige lügt, der bewußt die Unwahrheit sagt.
Die Debatten der philosophischen Zunft sind seit langem schon geprägt von Wahrheitstheorien, die in erster Linie die Sprachpragmatik betreffen. Nach der klassischen Definition des Aristoteles und des heiligen Thomas wird Wahrheit durch "Angleichung (adaequatio) von Sache und Verstand" erzeugt. Dies wird unter dem Label "Korrespondenztheorie" verhandelt. Die "Kohärenztheorie" dagegen legt Wert auf die innere Widerspruchsfreiheit unserer Sätze, und bei der Konsenstheorie liegt der Akzent auf der Übereinstimmung der Subjekte. Bei der Sprachphilosophie hält sich der Autor nicht lange auf.
Man mag es immerhin sympathisch finden, daß Baruzzi den Metaphysikverdacht nicht scheut. Wahrheit und Lüge traktiert er im ontologischen Sinne; die klassische Definition der Wahrheit ist für ihn die Heideggersche. Der knüpft an das griechische "aletheia" an und leitet aus den Wurzeln dieses Wortes die Übersetzung "Unverborgenheit" ab. Diese Definition ist zwar nicht unbedingt "klassisch", sie ist sogar umstritten, sie ist aber immerhin philologisch möglich. Die groß denkende und vom hohen Kothurn der großen Fragen herabtönende Philosophie spannt sich also zwischen Wahrheit und Lüge auf. Ihre Rede changiert auf sonderbare Art zwischen Aktiv und Passiv. Das Unverborgene zeigt sich. Es entbirgt sich nur dem Kundigen, der die Anstrengung des "Wahrheitens" auf sich nimmt: "Das Wesen der Wahrheit ist die Wahrheit des Wesens" (Heidegger). Wer oder was west hier? Das ist doch - jedenfalls auf Heideggers "Lichtung" - sonnenklar: Das Sein west an und ist hinfort anwesend.
Bevor er sich aber ins Kielwasser des Alten von Todtnauberg begibt, macht Baruzzi einen Gang durch die Geschichte des Denkens, erläutert Augustinus' und Kants Verständnis von Wahrheit und Lüge und blickt in die zeitgenössische Runde. Dabei geht es nicht ohne Pauschalierungen ab. Kritischer Rationalismus, Konstruktivismus, Kritische Theorie und Systemtheorie, also fast alle marktführenden Firmen, sind für ihn "mehr oder weniger Philosophien der Gewißheit". Das heißt, daß sie allesamt "die Wahrheitsfrage teils für obsolet, teils transzendent, metaphysisch und jedenfalls unwissenschaftlich ansehen". Dies trifft für mindestens drei der genannten Richtungen nicht zu. Es sei denn, man wollte alle Philosophie auf das Heideggersche Wahrheitswesen einschwören.
Den Abschluß und Höhepunkt des Buches bildet eine Aristoteles-Exegese, die um dessen Verbalisierung des Substantivs "aletheia" kreist. Das griechische "aletheuein" macht aus der Wahrheit eine Tätigkeit, das "Wahrheiten". Baruzzi bezieht sich besonders auf die berühmte Stelle, in der Aristoteles den Menschen als das "Lebewesen, das Sprache hat", bezeichnet und daß er allein fähig sei, "sich vom Guten und Schlechten, von Recht und Unrecht Ideen zu machen".
Aus dieser Stelle vor allem zieht Baruzzi das Recht, das Thema Wahrheit und Lüge auszuweiten auf nahezu alle großen Fragen der Philosophie. Lüge ist für ihn mehr als eine willentlich falsche Aussage. Wer das gute Leben nicht lebt, lügt, wer die falsche Politik macht, lügt. Nicht nur die Auschwitz-Lüge ist wahrheitswidriges Bestreiten von Verbrechen, das Geschehen in Auschwitz selbst ist eine "Lüge". So gern wir auch applaudieren möchten, daß sich da einer gegen den relativistischen und individualistischen Trend stellt, so sehr werden wir gebremst durch die Attitüde des "Alles hängt mit allem irgendwie zusammen", wie sie Hans Albert einmal ironisch gekennzeichnet hat. Das Wort "Lüge" meint etwas Bestimmtes. Folgte man Baruzzis Entgrenzung, würde es zum Synonym für alle Weltübel. Auch interpretiert er seine Gesprächspartner so, daß sie alle so ziemlich dasselbe meinen, dasselbe, was auch Arno Baruzzi meint. Also ist in Platons Höhle so ziemlich dasselbe zu finden wie auf Heideggers "Lichtung". Wenn Heidegger "west", dann "wahrheitet" Aristoteles und so weiter.
Heideggers fataler Satz "Wer groß denkt, muß groß irren", mit dem er einen lakonischen Kommentar zu seiner Verstrickung in den Nationalsozialismus abgegeben hatte, wird von Baruzzi in seinem Grundsatz ernst genommen, als eine "schwierige und schmerzliche Angelegenheit der Philosophie überhaupt". Diese weiß so viel von der "Entbergung ins Unverborgene" und der "Wahrheit der Irre", daß es jedesmal auf eine Entzauberung hinausläuft, wenn Baruzzi von konkreten Dingen spricht. Seine Bemerkungen zur Wirtschaft kann man bestenfalls als gutgemeinten Dilettantismus ansehen. Entzaubernd wirkt auch, wenn das "große Denken" sich in den Verhältnissen der deutschen Grammatik nicht immer zurechtfindet. ECKHARD NORDHOFEN
Arno Baruzzi: "Philosophie der Lüge".
Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1996. 212 S., br., 49,80 DM.
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