Die Geschichte Pinocchios, der stets voller guter Vorsätze ist, sie aber immer wieder bricht und alle Warnungen der Erwachsenen in den Wind schlägt, ist 1883 erstmals in Buchform erschienen und zählt heute zu den Klassikern der Weltliteratur. Roberto Innocenti schuf mit seinen detailreichen Bildern, die Realität und Phantasie in den lebendigen italienischen Gassen und in der bezaubernden Landschaft der Toskana verbinden, ein Meisterwerk der Buchillustration. Die vorliegende komplett überarbeitete Ausgabe der Abenteuer des hölzernen Jungen vereint die vor über 25 Jahren entstandenen Illustrationen mit 15 neuen Bildern des Künstlers.
"Dieser Pinocchio ist nicht nur das Resultat akribischer Recherchen, ungewöhnlich gekonnter Zeichentechnik und einer außerordentlich eindrucksvollen Wiedergabe von Stimmungen und Atmosphäre, diese Illustrationen enthalten ein sehr persönliches Bekenntnis Innocentis: die Liebe zur Toskana seiner Kindheit."Inge Sauer
"Dieser Pinocchio ist nicht nur das Resultat akribischer Recherchen, ungewöhnlich gekonnter Zeichentechnik und einer außerordentlich eindrucksvollen Wiedergabe von Stimmungen und Atmosphäre, diese Illustrationen enthalten ein sehr persönliches Bekenntnis Innocentis: die Liebe zur Toskana seiner Kindheit."Inge Sauer
Roberto Innocentis toskanische Pinocchio-Atmosphären
Ginge die Toskana - Gott behüte! - mal verloren, könnten Teile anhand der Aquarelle des Roberto Innocenti naturgetreu rekonstruiert werden - Bilder eines toskanischen Zeichners zu einem toskanischen Klassiker, von einem Toskaner geschrieben. Sie würde in einer Urtümlichkeit wiedererstehen, die sie längst eingebüßt hat. Als wollte er diesbezüglich vorsorgen, hat Innocenti seinen Pinocchio von 1988 noch mal um 15 neue Aquarelle bereichert. Allerdings läßt er die Postkartenlieblichkeit der "pleasant hills of Tuscany" außen vor. Gerade mal auf drei Tafeln erscheinen das Silbergrau der notorischen Olivenbäume und so viel Sonne, wie es braucht, um Schatten zu werfen; auch der Blick aus der Vogelschau wird einem nur durch ein Loch in der dichten Wolkendecke zuteil.
Es ist die Toskana der fröstelnden Jahreszeit, die Innocenti beschwört: vor Regen glänzendes Pflaster enger Gassen, triefende Hausfassaden mit vorgelegten Läden, schüttere Schneereste auf steinernen Gartenstufen, Himmel, der die Farbe von Schwalbennestern hat - kalkig grau -, und windgepeitschte Herbstzeitlosen unter kahlen Ästen (an einem davon baumelt der aufgehängte Pinocchio). Endlich, auf zwei Doppelseiten, dann doch eines der berühmten hügeligen Panoramen, aber weder lieblich noch grün, sondern bis zum Horizont mit Schnee bedeckt. Einem dünnen gemeinen Schnee, unter dem noch jede Unebenheit des Bodens sichtbar wird. Den wenigen Personen, die in dieser weißen Welt unterwegs sind, ist anzusehen, wie schneidend der Wind ihnen durch Mark und Bein pfeift. Auch das ist die Toskana.
Die Strandansichten, steinernes Auf und Ab von bestrickender Unregelmäßigkeit, sind als Rückkehr in die Vor-Tourismus-Zeit, die Vor-Reklame-Zeit erlebbar. Wimmelbilder, wie aus einem tieffliegenden Ballon aus gesehen, zaubert Innocenti uns hin, und man muß suchen, ehe man den Ausreißer Pinocchio entdeckt, der es beinahe geschafft hat, dem Volksauflauf wie auch dem Bild selbst zu entkommen. Nebenbei wird einem so manches Originelle des ausgehenden 19. Jahrhunderts vorgeführt: etwa der Abtritterker mit dem Fallrohr, die angeschmauchten häuschenartigen Abdeckungen der Schornsteine, die Waschfrauen am Marktbrunnen sowie vielfältige Arten, Lebensnotwendiges zu transportieren - ganz ohne Benzinverbrauch. Stärker vertreten als in der ersten Ausgabe sind die regionalen Typen, Charakterköpfe, von deren munterer Rhetorik im Buch und von deren lässiger Gebißpflege im Bild Beispiele zu finden sind.
Auf einem der neu hinzugekommenen Wimmelbilder hat Innocenti dem Fleiß der toskanischen Bevölkerung ein Denkmal gesetzt. Da wird Stroh um Weinflaschen gewickelt, werden Körbe geflochten, wird gestickt, gesponnen und geschmiedet. Der Maurer trägt seinen Mörtel im Bottich auf der Schulter, die Eierfrau und die Waschfrau balancieren ihre Körbe gar auf dem Kopf, die Kohlenmänner haben es wieder mal am schwersten, und inmitten der quirlenden Geschäftigkeit sitzt einer auf dem Pflaster und verziert Stück für Stück die Steinplatten mit kunstvollen Mustern. Pinocchio, der vor solchen erwachsenen Tagewerken noch zurückscheut, wird sich später in den Arbeitsprozeß dieser Tüchtigen eingliedern müssen.
Das Gran Teatro dei Burattini - Schauplatz von Pinocchios höchstem Entzücken und erster Stolperstein seiner guten Vorsätze -, das man sich bislang als eine Kreuzung zwischen dem Buchmesse-Spiegelzelt und dem Tadsch Mahal vorstellte, wird hier wahrscheinlicher. Eingezäunt von Hausfront, deren Erscheinungsbild unterschiedliche Stadien des Verfalls vorführt, paßt sich auch der Ort der Wunder der Schäbigkeit an. Und doch schwebt etwas um die großspurigen gelben Buchstaben und die abgestoßenen Aufbauten, das höchste Unterhaltung verspricht.
Man müßte für Roberto Innocenti das Wort "Atmosphäriker" erfinden, denn welche Beleuchtungskünste sind auch auf den Nachtbildern zu entdecken! Was er da aus Mond- und Laternenlicht, Kerzen- und Lampenschein herausholt, hat er sichtlich bei älteren Meistern gelernt. Auf dem allerletzten Bild sind wir in der Gegenwart angekommen. Mit einem alten Motorroller, der abgestellt wurde, denn in die Märchenwelt ist "Durchfahrt verboten". Aber das macht nichts, denn Pinocchios Schatten winkt schon.
KARLA SCHNEIDER
Carlo Collodi/Roberto Innocenti: "Pinocchio." Aus dem Italienischen übersetzt von Hubert Bausch. Sauerländer Verlag, Düsseldorf 2005. 192 S., geb., 24,90 [Euro]. Für jedes Alter.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Eine neue Prachtausgabe von Carlo Collodis "Pinochio" hat Andrea Lüthi anzuzeigen. Die Geschichte um den "selbstsüchtigen Holzbengel", der sich in zahlreichen Abenteuern zu einem freundlichen Menschenknaben verwandelt, ist für Lüthi natürlich ein Klassiker, über dessen moralisch etwas altbackenen Unterton sie gern hinweg sieht. Die großformatigen Illustrationen von Roberto Innocenti hält sie für einen triftigen Grund, das Buch neu zu entdecken. Dass sie manchmal beklemmend, gar erschreckend erscheinen, möchte Lüthi ihnen nicht negativ anrechnen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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