Dieses Buch ist kein klassisches Sachbuch mit einer durchgehenden Argumentationslinie, sondern ein Sammelband mit 21 kurzen Beiträgen, in denen ganz unterschiedliche Stimmen aus verschiedenen Professionen zu Wort kommen. Genau darin liegt für mich auch seine große Stärke: Verschiedene Perspektiven,
Themen und Lebensrealitäten stehen nebeneinander und eröffnen ein vielschichtiges Bild unserer…mehrDieses Buch ist kein klassisches Sachbuch mit einer durchgehenden Argumentationslinie, sondern ein Sammelband mit 21 kurzen Beiträgen, in denen ganz unterschiedliche Stimmen aus verschiedenen Professionen zu Wort kommen. Genau darin liegt für mich auch seine große Stärke: Verschiedene Perspektiven, Themen und Lebensrealitäten stehen nebeneinander und eröffnen ein vielschichtiges Bild unserer gegenwärtigen gesellschaftlichen Spannungen.
Ein Gedanke, der sich für mich besonders deutlich durch viele Beiträge zieht, ist die Bedeutung von Perspektivwechsel. Um Polarisierung konstruktiv begegnen zu können, braucht es die Bereitschaft, den Blickwinkel des Gegenübers einzunehmen. Nicht, um zwangsläufig einer Meinung zu sein, sondern um überhaupt verstehen zu können, warum jemand so denkt, fühlt oder handelt. Auch der Gedanke, dass Friedensfähigkeit mit innerem Perspektivwechsel beginnt, hat mich sehr angesprochen.
In den einzelnen Beiträgen wird deutlich, wie unterschiedlich Polarisierung verstanden wird. Als innere Haltung, als gesellschaftliches Spannungsfeld, als Motor für Veränderung, aber auch als Gefahr, wenn sie in Verhärtung, Manipulation oder Missachtung von Lebensrealitäten umschlägt. Immer wieder tauchen zentrale Themen auf wie Dialog als Grundlage menschlicher Begegnung, Zweifel statt Starrheit, Verantwortung statt bloßer Rechthaberei, das Aushalten von Gegensätzen, die Suche nach dem Verbindenden, sowie die Bedeutung von Mündigkeit, kritischem Denken, solidarischen Handeln und demokratischer Beteiligung. Besonders stark fand ich den Gedanken, dass wir weniger an Polarisierung selbst leiden als an unserer Unfähigkeit, sie auszuhalten.
Sehr stark empfand ich die wiederkehrende Betonung von innerer Stärke, Einfühlungsvermögen und kritischem Denken- ebenso das bewusste Öffnen von geschützten Räumen für echte Gespräche. Besonders nachdenklich gemacht hat mich der Gedanke, dass die große Gefahr unserer Zeit vielleicht weniger in der Polarisierung selbst liegt, sondern darin, dass gesellschaftlich immer weniger Widerspruch ausgehalten wird und abweichende Positionen kaum noch Raum bekommen.
Die Vielfalt der Beiträge habe ich insgesamt als bereichernd empfunden, auch wenn mich nicht jeder Text gleich stark angesprochen hat. Manche Themen wiederholen sich in ähnlicher Form, an einzelnen Stellen hätte ich mir mehr Tiefe gewünscht. Gleichzeitig gehört genau das auch zu einem echten Perspektivwechsel. Nicht jede Sichtweise muss mir gefallen, um relevant zu sein.
Ein persönlicher Kritikpunkt für mich ist die Zusammensetzung der Autor:innen. Der Band ist deutlich stärker von männlichen Perspektiven geprägt. Weibliche Stimmen, queere Perspektiven sowie Erfahrungen von People Of Color kommen kaum oder gar nicht zu Wort. Gerade bei einem Buch, das sich so intensiv mit Dialog, Vielfalt und gesellschaftlichem Miteinander beschäftigt, hätte ich mir mehr sichtbare Diversität gewünscht.
Ein weiterer Themenbereich, der mich besonders beschäftigt hat, ist der Zustand des Gesundheits- und Pflegesystems. Als ehemalige Angehörige dieses Bereichs habe ich insbesondere seit der Covid- Pandemie eine deutliche Verschärfung der Situation wahrgenommen. Die Aggressionen und die Gewaltbereitschaft gegenüber Beschäftigten haben spürbar zugenommen. Viele berichten von Erschöpfung, Resignation und dem Gefühl, vom System allein gelassen zu werden.
Gleichzeitig bin ich seit fünf Jahren selbst schwer erkrankt und auf Pflege angewiesen. Erst aus dieser doppelten Perspektive- als Ärztin und als Patientin- wurde mir in voller Härte bewusst, wie dramatisch die Situation in der Pflege tatsächlich ist: menschlich, strukturell und finanziell. Pflegebedürftigkeit bedeutet nicht nur Abhängigkeit, sondern ist auch mit enormen Kosten verbunden, falls man überhaupt an Hilfe kommt. Dass viele der bestehenden Missstände keine Einzelfälle sind, sondern strukturelle Ursachen haben, wird in diesem Buch deutlich.
Die Forderung nach einer Reform des Bildungssystems, die in mehreren Beiträgen anklingt, halte ich ebenfalls für zentral. Neben der Gesundheitskompetenz, die ich ausdrücklich unterstütze, würde ich mir auch ein eigenes Fach für emotionale Intelligenz, Empathie und soziale Verantwortung wünschen. Denn vieles, woran wir gesellschaftlich scheitern, beginnt nicht im fehlendem Wissen- sondern im mangelnden Mitgefühl.
Insgesamt ist dieses Buch für mich ein Denkanstoß- Buch. Eines, das nicht mit einfachen Antworten arbeitet. Trotz der genannten Kritikpunkte hat mir das Buch insgesamt sehr gut gefallen. Es lädt nicht zur schnellen Zustimmung ein, sondern zur ehrlichen Auseinandersetzung und zur eigenen Verhaltensreflexion. Und genau das macht seinen Wert aus.