Als Louis Aragon (1897-1982) Anfang 1922 das ungeliebte Medizinstudium zugunsten freier literarischer Tätigkeit aufgab, erhielt er die finanzielle Unterstützung des Pariser Couturiers, Kunstsammlers, Bibliophilen Jacques Doucet (1853-1929). Als Gegenleistung verpflichtete sich der junge Autor, in regelmäßigen Abständen Skizzen des Pariser literarischen und künstlerischen Lebens für seinen Mäzen zu verfassen - Texte, die dem 70-Jährigen einen unmittelbaren Einblick in das Denken und Treiben der jungen zeitgenössischen Avantgarde vermitteln sollten. In Erfüllung dieses Abkommens schrieb Aragon in den Jahren 1922 bis 1924 eine Reihe von kurzen Essays, die ihm mit einem monatlichen Honorar vergütet wurden. Eine vorübergehende Entfremdung der beiden Männer führte zum Abbruch dieser Arbeit. Offenbar hatte Aragon ursprünglich die gesamte Periode von 1911 bis 1922 darstellen wollen. Das zeigt der Plan, den er im Februar 1922 in der Zeitschrift "Littérature" unter dem Titel "Projet d'histoire littéraire contemporaine" veröffentlichte. Die Manuskripte befinden sich heute in der Bibliothèque littéraire Jacques Doucet (Paris). Nur wenige von ihnen hatte Aragon zu Lebzeiten veröffentlicht. Er machte aus ihnen eine Art Geheimsache, so dass die meisten Kapitel erst nach seinem Tod von dem französischen Dada-Spezialisten Marc Dachy herausgegeben werden konnten. Dieser von Dachy kommentierte Text liegt der hier gebotenen ÜberSetzung von Lydia Babilas zugrunde.
Wie Louis Aragon einmal Geschichte schrieb
André Breton ohrfeigte Jacques Baron, Tristan Tzara rief die Polizei, wofür Paul Eluard ihn vermöbeln wollte, aber selbst von mehreren Zuschauern einiges abbekam, und die Polizisten waren derweil auch nicht zimperlich: aus solchem Anekdotenstoff sind die Geschichten vom öffentlichen Auftreten avantgardistischer Bewegungen. In diesem Fall von Dada - gerade noch, wie man gleich hinzufügen muss, denn die Tätlichkeiten bei der Aufführung von Tzaras "Le Coeur à gaz" im Sommer 1923 markierten den endgültigen Bruch der zukünftigen surrealistischen Gruppe mit dem drei Jahre zuvor von Zürich nach Paris geholten Dadaisten.
Louis Aragons wohl kurz darauf geschriebene Schilderung dieses Abends ist noch ganz im unversöhnlichen Ton gehalten. Sie gehört zu den Texten, die Aragon für den Mäzen Jacques Doucet schrieb, dessen Patronage ihm der Freund Breton verschafft hatte, der Doucet beim Ankauf von Gemälden beriet. Aragon hatte sich das "Projekt einer zeitgenössischen Literaturgeschichte" vorgenommen, die vor dem Ersten Weltkrieg einsetzen und über zehn Jahre bis in die Gegenwart führen sollte. Eine in "Littérature", der von ihm gemeinsam mit Breton und Philippe Soupault geleiteten Zeitschrift, erschienene Aufstellung des geplanten Inhalts zeigte, worum es dabei ging: Er wollte die literarischen und künstlerischen Umbrüche des letzten Jahrzehnts Revue passieren lassen, deren Impulse Aragon und seine Freunde aufnahmen. Geschichtsschreibung (fast) im Augenblick des Geschehens, aus der Teilnehmerperspektive und sozusagen im Handgemenge, wie es im Fall der Tzara-Soiree sogar zur wörtlichen Bedeutung geriet.
Tatsächlich geschrieben hat Aragon 1922 und 1923 nur einige Stücke des stattlichen Pensums, die man nun zum ersten Mal in einer deutschen Ausgabe lesen kann. Es ist eine anregende und vergnügliche Lektüre, denn der junge Aragon, der schon zwei Romane hinter sich und "La Défense de l'Infini" und den "Paysan de Paris" gerade vor sich hat, vereint vieles in sich: das Gespür für Zeitsignaturen, genaue und manchmal gnadenlos eingesetzte Beobachtungsgabe, stilistische Geschmeidigkeit in mehreren Tonlagen, von der Kunstkritik bis zum Gesellschaftsfeuilleton, das für eine ironische Anverwandlung fast schon zu elegant ausfällt.
Ob er sich an einen Stummfilmstar seiner Vorkriegsjugend erinnert, Paul Valéry im Salon von Miss Barney, André Gide bei sich zu Hause oder eine Picabia-Vernissage beschreibt: langweilig wird das nie. Man begreift beim Lesen auch, warum den Mitstreitern Breton und Soupault die journalistische Ader Aragons eher ein Dorn im Auge war. Tatsächlich gab Aragon im Frühjahr 1923 die kaum angetretene Leitung des "Paris-Journal" gleich wieder ab, kehrte dem Metier aber durchaus nicht den Rücken. Nur kam etwas später ja leider die strikte Observanz gegenüber der Kommunistischen Partei hinzu, welche die Texte zur zeitgenössischen Literaturgeschichte glücklicherweise noch nicht ahnen lassen.
HELMUT MAYER
Louis Aragon: "Projekt einer zeitgenössischen Literaturgeschichte". Essays.
Aus dem Französischen von Lydia Babilas. Edition text + kritik, München 2010. 215 S., br., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main