Der Osten ist noch lange nicht entdeckt. Königsberg und Czernowitz, Lemberg und Odessa, die großen Flüsse und die weiten Räume - Karl Schlögel, Publizist und Professor für Osteuropäische Geschichte, hat über die Welt im Osten, ihre Menschen, ihre Ideen und ihre Geschichte geschrieben. Ein Abenteuer- und Liebesroman der besten Art.
Der Livingstone des Wilden Ostens versammelt seine Reisefrüchte
Auf der Karte der Welt, heißt es, gebe es keine weißen Flecken mehr. Aber das ist nicht wahr. Als vor dreizehn Jahren absehbar wurde, daß man plötzlich auf eigene Faust auch wieder nach St. Petersburg, Lemberg, Irkutsk, Ulan Bator oder Wladiwostok reisen konnte - da entstand der Wilde Osten. Es handelte sich um eine Gegend, in der man nicht in jedem Fall ungestraft wandelte; zum ersten Mal seit dem neunzehnten Jahrhundert gab es solche Länder wieder.
Der Unterschied zu dem weißen Flecken auf der Landkarte von damals bestand allerdings darin, daß die No-go-areas, die sich zum Ausgang des unsrigen dann doch noch aufgetan hatten, nicht natürliche, sondern gesellschaftlich-historisch-kunsthistorische Gefahren- und Abenteuerzonen darstellten, eine Art Afrika der Kulturgeschichte und der Lektüre. Man sah dort nicht vom Kilimandscharo auf weite Ebenen herab, sondern von derselben Treppe in Odessa, die man aus Eisensteins Film kannte, in eine durch Jahrzehnte zerstörte und sich jetzt skurril, turbulent oder unheimlich belebende Stadtlandschaft hinaus. Zu erobern waren nicht die Steppe und der Dschungel, sondern die Straße und der Platz. Man holte sich nicht die Malaria; das Auto wurde geklaut. Und die glaubwürdigsten Schurken und die schönsten Frauen in Hollywoodfilmen haben seither Namen, die tschechisch klingen, und Gesichter, die aussehen, wie man sich Clawdia Chauchat in Thomas Manns "Zauberberg" vorstellt.
Daß das westliche Publikum sich über dieses östliche Grusel- und Sehnsuchtsland inzwischen diese oder jene Meinung gebildet, manches Wissen angesammelt oder auch schon eigene Anschauungen gewonnen hat, liegt zu einem großen Teil daran, daß während dieser Öffnungsdekade ein Mann regelmäßig hingefahren und von dort berichtet hat, der seither zu einer Art David Livingstone unseres Schwarzen Kontinents geworden ist. Und wo immer wir Hinterherreisenden staunend stehen, auf jener Odessaer Treppe, auf dem Petersburger Newski-Prospekt, auf dem Marktplatz von Breslau oder der Lódzer Piotrkowska-Straße, unsere Blicke und Eindrücke sind zu einem gut Teil geleitet und präfiguriert von Texten eines Mannes, der überall schon da war. Denn auch wir sind ja schon einmal dagewesen, in den Städtebildern eines an der Viadrina in Frankfurt (Oder) lehrenden Historikers und Slawisten: "Prof. Dr. Karl Schlögel, we presume?"
Die jetzt in dem Band "Promenade in Jalta" wieder abgedruckten Essays und Reportagen Schlögels (fast ein ganzer Band der "Anderen Bibliothek" ist in das neue Buch hineingeraten, ein publizistisch ungewöhnliches, aber durch den Erkenntnisgewinn wohl doch gerechtfertigtes Verfahren) zeigen, daß wir auf all jenen Lektüre-Reisen der Führung eines kundigen und begeisterten Mannes gefolgt sind; eines Cicerone aber auch, der uns die Freiheit gelassen hat, eigene Erfahrungen zu machen und Eindrücke zu sammeln. Wer in Breslau, Vilnius oder Lemberg schon war, erkennt seine eigenen Städte in Schlögels Text zwanglos wieder, auch wo er dort etwas anderes gesehen und erfahren hat. Und für die Vorbereitung solcher Reisen gibt es kaum etwas Besseres als die Lektüre von Schlögels Band.
Blickwinkel und Erkenntnisinteresse Schlögels stammen dabei durchaus noch aus der großen Zeit der Mitteleuropa-Begeisterung Mitte und Ende der achtziger Jahre, als man in Stadtcharakteren wie Prag, Krakau, Wien, Triest und Lemberg oder in Landschaften wie jenem Galizien-Lodomerien der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie eine postsozialistische Utopie zu entdecken glaubte, ein zivilgesellschaftliches Never-never-land friedlichen und kulturell fruchtbaren Zusammenlebens verschiedener Ethnien, Kulturen, Religionen und Sprachen - ohne sich freilich klarzumachen, daß man den Kaiser Franz Joseph nicht aus der Kapuzinergruft holen und Heinrich Himmler nicht aus der Geschichte herausoperieren konnte; daß, wie Dan Diner geschrieben hat, die Umstände, die jenes geträumte Mitteleuropa einmal möglich gemacht haben, schon durch Revolution und Nationalismus (und erst recht durch die Nazis und Stalinisten) wie durch ein abgefeuertes Projektil, unwiderruflich also, durchschlagen worden sind.
Und doch ist es nicht nur sympathisch, sondern es schärft auch den eigenen Blick, jener Utopie in Schlögels Texten wiederzubegegnen: in dem sozusagen atemlosen und immer begeisterten Staunen, das seinem Stil übrigens nicht auf jeder Seite seines Buchs nur gutgetan hat. Diese Begeisterung beachtet vor allem anderen die Vielfalt und das Kleine, das Turbulente und das Abseitige. Die Toleranz im Improvisierten fallen ihr auf, der Erfolg der bricolage, kurz: das Neue, das sich in diesen Gegenden und Gesellschaften zeigt. Denn das scheint ja der eigentliche Grund unserer Faszination für Mittel- und Osteuropa zu sein: daß dort der Kapitalismus und die Welt noch nicht fertig sind, sondern erst entstehen. Daß dort so vieles, von den Firmenkonstruktionen bis zur Art, wie die Frauen sich anziehen, selbstgebastelt und gerade erst erfunden wirkt, daß dort im Nachholen eine Moderne entsteht, die ihren Erbauern nicht an der Wiege gesungen worden ist: learning on the job.
Sich vom Neuen im Unfertigen gesellschaftspolitisch inspirieren zu lassen ist Schlögel wahrscheinlich nirgends einleuchtender gelungen als in der Beschreibung des osteuropäischen Basars, den als Phänomen und historischen Indikator entdeckt und als erster beschrieben zu haben er beanspruchen darf: "Wahrscheinlich gibt es keinen genaueren Gradmesser für den Stand der ,Transformation' der ehemals sozialistischen Länder als Aufkommen und Verschwinden des Basars: wo er verschwunden ist, ist der Prozeß abgeschlossen, wo er noch da ist, wird er noch gebraucht."
Es ist das Turbulente, Unkonventionelle, Fraktale, Halbkriminelle, Spekulative der neuen ökonomischen Verhältnisse, wie sie Mitte der neunziger Jahre auf dem Potsdamer Platz und dem Warschauer "Plac Defilad" sich gezeigt hat, es sind die "Kriechströme" des Ameisenhandels unzähliger Kleinkapitalisten, die "Tausend Plateaus" der neuen Verhältnisse im Osten, die Schlögel mit fast utopischer, wahrscheinlich aus Enzensbergers berühmtem Aufsatz "Vermutungen über die Turbulenz" entlehnter Emphase beschreibt (wobei zuweilen auch das Stilideal des "Kommunistischen Manifests" hineinzuspielen scheint): "Das Lebensgefühl ganzer Generationen ist dahin. Nicht die Arbeit oder die Ausbildung, die man genossen hat, entscheidet darüber, ob es einem gutgeht, sondern ob man im richtigen Augenblick an der richtigen Stelle zugegriffen hat. Statussymbole und Rangunterschiede sind umgestürzt. Der Kioskbesitzer, der seine erste Million gemacht hat, fährt im Mercedes vor, um sich die Lizenz abzuholen bei einem hohen Beamten der Stadt, den er jederzeit kaufen kann. Die Belegschaften ganzer Fabriken kann man auf Basaren wiederfinden. Aus Ingenieuren wurden commis voyagers. Tausende von Menschen, die ihr Leben lang ein seßhaft-bürgerliches Leben geführt haben, sind unterwegs in Istanbul, Charbin, Saloniki, Lódz Es gibt inzwischen eine ganze Generation, die im Sog des Basars aufgewachsen ist, Kinder, die ihre Väter nur in großen Abständen sehen, weil sie Autos von Dortmund nach Kaunas überführen."
Daß Schlögel die "sozialen Unkosten" dieser Transformationen außer acht ließe, kann man ihm nicht vorwerfen. Und doch kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß er die Turbulenz im Osten manchmal auch unzulässig idealisiert oder zumindest heroisiert hat. Denn gerade nachdem die "Basarphase" der Transformationsgesellschaften in den Ländern westlich der GUS-Staaten inzwischen abgeschlossen ist, gerät das Gefahrenpotential in den Blick, das während ihrer frühkapitalistischen Heldenzeit in die Gesellschaften unserer mittel- und osteuropäischen Nachbarländer eingedrungen ist. Daß sich Kioskbesitzer hohe Kommunalbeamte kaufen können, mag einem als Betrachter jener individuellen Lebensgeschichte imponieren. Für die Gesellschaft, in der dieser Vorgang möglich ist, stellt es ein riesiges Problem dar. Wie die Immunsysteme einer offenen Gesellschaft mit solchen Erbschaften in Zukunft fertig werden (zumindest in Polen, Tschechien und Ungarn hat man bewiesen, daß posttotalitäre Gesellschaften mit ihnen fertig werden können), wäre das interessanteste Thema für eine Fortsetzung dieser "Promenade in Jalta".
STEPHAN WACKWITZ
Karl Schlögel: "Promenade in Jalta und andere Städtebilder". Hanser Verlag, München und Wien 2001. 312 S., geb., 39,80 DM.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Osteuropa-Experten gibt es viele, aber kaum einen, der so vielseitig ist wie Karl Schlögel, ist Marta Kijowska überzeugt. Der hat in Berlin, Moskau und St. Petersburg studiert, bereits einige wegweisende Bücher zum Thema verfasst und ist heute Professor für Osteuropäische Geschichte in Frankfurt an der Oder, informiert die Rezensentin. Europa hält Schlögel für einen "neuen Kontinent", denn die Veränderungen im Osten wirkten sich auf den gesamten Erdteil aus. Über den Osten sei aber denkbar wenig bekannt, klagt nicht nur der Autor. Sein Buch sei ein Beitrag für ein besseres Verständnis vom Osten. Und das ist ihm gelungen, meint Kijowska, denn es enthalte viele Informationen, die sie zu einer anderen Sichtweise verleitet hätten. Nicht nur Historisches werde hier von Schlögel präsentiert, sondern die 25 Berichte, Essays und Vorträge aus den Jahren 1988 bis 2000 enthielten auch viele Alltagsbeobachtungen, Stimmungsvolles und Nostalgisches, wenn auch, schränkt die Rezensentin ein, die Ankündigung des Verlages, hier handle es sich um einen "Abenteuer- und Liebesroman", doch etwas weit hergeholt sei.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Schlögel ist ein Ostverführer: Kaum einer hat dem deutschsprachigen Publikum Mitteleuropa in seinen Facetten derart luzid und zugleich lustvoll nähergebracht. Glücklich mischen sich in seinen Texten Essay und Reportage, Theorie und Anschauung, Enzyklopädie und Detailbeobachtung." Andreas Breitenstein, Neue Zürcher Zeitung, 07./08.04.01 "Karl Schlögel schreibt gegen die westliche Überheblichkeit an, sich Pauschalurteile über Mittel- und Osteuropa erlauben zu wollen, ohne je da gewesen zu sein. (...) 'Promenade in Jalta' ist - wie alle anderen Bücher Karl Schlögels - ein einziges Plädoyer für Neugier auf Mittel- und Osteuropa. Und es macht Lust auf das jetzt entstehende Europa. Wer mit Karl Schlögel im Kopf gereist ist, der möchte bereichert die Koffer packen und selber losfahren, um wie er Städte und Landschaften zu lesen." Katharina Narbutovic, Der Tagesspiegel, 01.04.01 "Wie ein Archäologe an einer Ausgrabungsstätte macht er Geschichte sichtbar und findet den alten Glanz vieler Städte wieder ... Der Historiker Schlögel schreibt lebendig und spricht auch die Sinne des Lesers an ... Essays von ihm sind ein Ereignis, das die Sicht auf Europa verändert." Mareile Ahrndt, Financial Times Deutschland, 15.06.01 "Schlögel weiß dem dichten Basartreiben auf einem Feld am Stadtrand, wo die Waren auf den Kühlerhauben der Dacias, Wolgas und Wartburgs liegen, ebenso viel abzulesen wie den prächtigen Ensembles am Petersburger Newski-Prospekt. Seine atmosphärisch dichten Städtebilder gehören in das Handgepäck jedes Reisenden, der gen Osten zieht." Jörg Plath, Der Tagesspiegel, 06.08.02