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Produktdetails
  • Verlag: Roter Stern, Fr. / Stroemfeld
  • Seitenzahl: 394
  • Unbestimmt
  • Abmessung: 225mm
  • Gewicht: 700g
  • ISBN-13: 9783878777687
  • ISBN-10: 387877768X
  • Artikelnr.: 09011566
  • Herstellerkennzeichnung
  • Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Autorenporträt
Klaus Heinrich, Jahrgang 1927, lebt in Berlin, wo er aufgewachsen ist. Nach dem Gymnasium war er Luftwaffenhelfer, 1943 wurde ein Verfahren gegen ihn geführt, wegen Wehrkraftzersetzung und Defaitismus. Seit dem Wintersemester 1945/46 studierte er Rechte und Religionwissenschaften, Theologie und Psychologie an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin. 1948 war er studentischer Mitbegründer der Freien Universität Berlin. 1952 schloß er das Studium mit der Promotion ab, danach: Assistenz und Lehrtätigkeit am Religionswissenschaftlichen Institut, 1964 Habilitation, 1971 ordentliche Professur für das Fach Religionswissenschaft auf religionsphilosophischer Grundlage.22
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.08.2015

An das Große glauben

1979 hielt der Berliner Religionsphilosoph Klaus Heinrich seine bahnbrechenden Vorlesungen zu NS-Architektur und Klassizismus. Jetzt liegen sie erstmals schriftlich vor.

Wer die Fotografien betrachtet, die Adolf Hitlers Arbeitszimmer in der Reichskanzlei zeigen, dem fällt vor allem eines auf: die Distanz, die jeder Eintretende zurücklegen musste, bis er den Tisch des Diktators erreichte. Einer steht die ganze Zeit, der andere muss auf ihn zugehen: Diese Inszenierung von Macht in einem überlangen Raum, die Ästhetik der Distanzierung, ist keine Erfindung des Architekten Albert Speer. Auch Benito Mussolini hatte ein solches Arbeitszimmer im Palazzo Venezia, und nur wenige haben es geschafft, sich der einschüchternden Wirkung dieser Halle zu entziehen. Berühmt ist die Geschichte, wie der Schriftsteller und Dandy Kurt Suckert, besser bekannt unter seinem Künstlernamen Curzio Malaparte, einmal zu Mussolini einbestellt wurde, weil er sich abfällig über dessen Krawatten geäußert hatte. Das Gespräch führte zu einer vorläufigen Versöhnung, Malaparte wanderte den langen Weg zum Ausgang zurück, drehte sich um und sagte zum Abschied: "Erlauben Sie mir eine Bemerkung? Auch heute tragen Sie wieder eine furchtbare Krawatte."

Man weiß nicht, ob diese Szene, die Bruce Chatwin in seiner Recherche des Falls kolportiert, sich wirklich so zutrug, und ob die energische Art, die einschüchternde Wirkung des Raums durch eine souveräne Renitenz zu brechen, wirklich zur Verbannung Malapartes beigetragen hat - aber sie führt deutlich vor Augen, was passierte, wenn jemand die Demut zurückwies, die ihm die Architektur nahelegte.

Eine der klügsten Analysen dieser Ästhetik der Distanzierung war der Fachwelt lange unbekannt: Ende der siebziger Jahre hielt der 1927 in Berlin geborene Religionsphilosoph Klaus Heinrich an der Freien Universität Vorlesungen zur Architektur, vornehmlich zu Schinkel und Albert Speer und in freier Rede, die erst jetzt, anhand von studentischen Mitschnitten, herausgegeben wurden ("Dahlemer Vorlesungen. Eine architektonische Auseinandersetzung mit dem NS". Arch+/Stroemfeld Verlag, 2015). Im Zentrum von Heinrichs Analyse steht der etwas sperrige Begriff der "Substruktion", mit der Heinrich "das räumliche Sichtbarwerden der gattungsgeschichtlichen Fundamente" bezeichnet wissen will. Was damit konkret gemeint ist, führt er in seiner Analyse der Architekturen Schinkels und Speers aus.

In Schinkels Rückgriff auf klassische Architektur erkennt Heinrich die "Utopie einer Stadt, in der man von Perspektive zu Perspektive wandelt und sich bei der Betrachtung der Bauten, die teils alt, teils unerhört neu dastehen und das flimmernde Licht von ganz woanders her transportieren, auch ein bisschen klar wird über die Geschichte der Gattung, die man selbst transportiert". Diese "multiperspektivische Sicht", die Feier des souveränen Individuums, löse sich im monumentalistischen Neoklassizismus auf: "Das Wandeln von Perspektive zu Perspektive wird durch das Marschieren ersetzt. Was zählt, ist nur noch die Erinnerung an den Ursprung ,der Bewegung', die immer in Bewegung gehalten werden muss." Es ist erhellend, wie Heinrich die Verwandlung der Stadt in ein Männerlager, die Militarisierung der Körperbewegungen in Speers Bauten darstellt, wie er sie mit Gottfried Benns "Dorischer Welt" erklärt, wie er den Klassizismus gegen seine Mutation im Dritten Reich abgrenzt: wie im Gegensatz zu Speers zur "Zerschmetterung" ihrer Besucher angelegten "Großen Halle" Schinkels formal vergleichbare Rotunde im Alten Museum "für umherwandelnde Einzelne" gedacht sei, wie Schinkels Bauten "zum Spielen" verleiteten, wie sie als Bauten "zum Anlehnen, Davorstehen und Plaudern" funktionierten - im Gegensatz zum "unnahbaren Raum" Speers. Und gerade Heinrichs präzise Einzelanalysen von Schinkels Entwürfen, etwa dem Schauspielhaus am Gendarmenmarkt, als Gegenbauten, die gegen die Dominanz des Schlosses ein anderes Gesellschaftsideal, die Idee eines bürgerlich aufgeklärten Spree-Athens, setzen, machen die Ausgabe zu einem wirklichen Fund.

Man muss Heinrich allerdings nicht in all seinen Analysen folgen, vor allem dort nicht, wo er in fast karikaturhafter Psychologenart Baukörper in Männliches und Weibliches zu unterteilen versucht ("Das Gerüst ist männlich . . . Die Wand ist weiblich"). Interessanter ist seine Unterscheidung von struktureller und formaler Adaption: Wenn sich die Architekten der rekonstruierten Berliner Innenstadt darauf berufen, dass sie "im Geist Schinkels" bauten, weil sie Schinkel'sche Proportionsregeln wieder aufgriffen, dann ist nach Heinrich das Gegenteil der Fall - denn formale Imitate waren gerade nicht der Kern von Schinkels Architektur. Im Geist Schinkels zu bauen hieße demnach, das Vorhandene in Frage zu stellen, es mit einer eigenen Vision einer anderen Gesellschaft zu überformen: Schinkel hätte heute nicht wie Schinkel damals gebaut.

Was in der Gegenwartsarchitektur im Namen einer Rückbesinnung auf Schinkel geschehe, so Heinrich in einem Interview, das die Herausgeber der Zeitschrift mit ihm führten, knüpfe "weniger an Schinkel als an die italienische rationalistische Architektur an. Man könnte sagen, sie erinnern an eine Zeit, der sie das Prädikat, den Ehrentitel des Intakten geben würden; an ein intaktes Berlin, das wieder die alten Traufhöhen hat." Warum aber sollte das alte Berlin in einer dem Bauhaus formal verwandten, reduzierten Architektursprache des italienischen Rationalismus wiederauferstehen? Die Analyse erweist sich dann als schlüssig, wenn man sieht, dass der italienische Rationalismus, wie er etwa die Architektur der Idealstadt Sabaudia prägte, gerade keine Experimentalisierung des Lebens im Sinne des Bauhauses, sondern eine Rückkehr zu den einfachen Formen der römischen Planstädte im Sinn hatte - also ebenfalls eine Art kritische Rekonstruktion war.

Eine Spur verfolgt Heinrich nicht, obwohl sie in seinen Denkfiguren angelegt wäre. Er stellt fest, dass es Bauten gibt, die "nicht durch die pure Größe" erdrücken, sondern durch "die Art, wie sie auftreten", die Weise, wie man "in sie hineingenötigt" wird. Diese Beobachtung könnte aber auch zu der umgekehrten Frage führen, ob es eine Monumentalität gibt, die nicht Disziplinierung und Vernichtung bedeutet. Eine monumentalistische Moderne findet man gleichzeitig auch jenseits von Speer in Frankreich und den Vereinigten Staaten. Auch Robert Moses' gigantische Badeanlagen, die in den dreißiger Jahren entstanden, sind monumental - und darin lag ein Versprechen: Das öffentliche Strandbad war sichtbar nicht mehr eine Angelegenheit für wenige Privilegierte, sondern allen zugänglich. Ob Bauten befreiend oder einschüchternd wirken, wäre dann keine Frage ihrer Größe, sondern eine der Steuerung der Körper in ihnen; die Frage, ob durch den Bau der Eigensinn ihrer Nutzer ermutigt oder zerstört wird.

NIKLAS MAAK

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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Die in diesem Band gesammelten Psychoanalyse-Vorlesungen des Berliner Religionswissenschaftlers Klaus Heinrich sind 25 Jahre alt - der Begeisterung des Rezensenten Hans-Jürgen Heinrichs über für ihn darin offenbar enthaltene bahnbrechende Erkenntnisse tut das keinen Abbruch. So kann man, oder wenigstens der Rezensent, bei Heinrich lernen, im scheinbar Unwesentlichen gerade die entscheidenden "Momente einer Verdrängung" zu erkennen - und daraus folgern, dass Geschichts- und Sozialwissenschaften sich auf das Fundament der Psychoanalyse stützen sollten. Als befänden wir uns in den 70er Jahren, wird der (emanzipatorischen, wie es natürlich heißt) "Wissenschaft Psychoanalyse" ein immenses gesellschaftskritisches Potenzial zugesprochen; zur Entsorgung des "pathogenen Materials" in der Gesellschaft scheint sie prädestiniert. Ein paar blinde Flecken erkennt der Rezensent dann zwar doch, aber er bleibt des Lobes voll über Heinrichs "Theorie und Praxis eines schweifenden, dialogischen Denkens".

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