Eine Fallstudie zur Festigung unternehmerischer Macht am Beispiel des größten deutschen Zigarettenherstellers im 20. Jahrhundert. Philipp Reemtsma (1893-1959) wurde schon zu Lebzeiten als »deutscher Zigarettenkönig« bezeichnet. Sein noch junges Unternehmen erreichte in den 1920er Jahren eine marktbeherrschende Stellung und lenkte bald die Geschicke der gesamten Branche. Wie waren der rasante Aufstieg und die Festigung dieser Stellung möglich? Der Autor analysiert erstmals die Machttechniken und Machtbeziehungen eines Unternehmens, das in beispielloser Weise auf das Handeln seiner Konkurrenten Einfluss nehmen konnte und auch die regulativen Rahmenbedingungen der Industrie mitgestaltete. Netzwerke und beste Kontakte zur Ministerialbürokratie gehörten ebenso dazu wie Zuwendungen für die NS-Elite in Millionenhöhe. Die von Reemtsma gepflegte paternalistische Haltung gegenüber der Konkurrenz fand ihre Fortsetzung in der Frühzeit der Bundesrepublik. Aus diesem Grund wird das Beispiel des größten deutschen Zigarettenherstellers zu einer Fallstudie moderner unternehmerischer Macht zwischen Kontinuität und Wandel, bei der in komplexer Weise zentrale Fäden deutscher Wirtschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts zusammenlaufen.
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Die dunkle Seite des Aufstiegs Philipp Reemtsmas
Im Jahre 1920 war Reemtsma ein unbedeutender Zigarettenhersteller, wie es rund 1000 in Deutschland gab. Aus diesen bescheidenen Anfängen ging ein Großkonzern hervor, der lange die gesamte Branche dominieren sollte. Reemtsma zählte bis zum Verkauf an Imperial Tobacco (2002) zu den wichtigsten deutschen Konsumgüterproduzenten. Bereits 1959 beziehungsweise 1961 aber war mit dem Tod von Philipp und Hermann Reemtsma die Ära des familiengeführten Unternehmens zu Ende gegangen. 1980 folgte der Verkauf von 53 Prozent der Anteile an Tchibo.
Der spektakuläre Aufstieg Reemtsmas bietet ausreichend Stoff für Heldengeschichten, denn der junge, energiegeladene Philipp zeichnete sich durch eine kluge Unternehmensführung aus. Er verstand es, während und dank der Inflation der frühen zwanziger Jahre zu expandieren und verlagerte das Unternehmen von Erfurt nach Altona, wo es den Freihafen zur zollfreien Lagerung von Tabak nutzte. Die Kooperation mit dem wohl besten Werbeberater der Zeit, Hans Domizlaff, erlaubte den Aufbau der ersten deutschlandweit bekannten Zigarettenmarke (R 6) und eine überaus kreative Werbepolitik. Reemtsma verfolgte einen innovativen Marketing-Mix, lange bevor es diesen Begriff gab.
Diese Erfolgsstrategien stehen jedoch nicht im Vordergrund des Buches, das sich auf einen anderen Ursachenstrang für den spektakulären Aufstieg konzentriert, nämlich auf die Ausübung von Macht. Philipp Reemtsma begriff früh, dass die Ausgestaltung der Tabaksteuer und der Wettbewerbsordnung für den Erfolg auf dem deutschen Zigarettenmarkt entscheidend waren. Diese Einsicht verwies ihn auf die politische Arena.
Reemtsma gelang es, viele wichtige Rahmenbedingungen des Marktgeschehens zum Vorteil seines Unternehmens zu beeinflussen. Der Lobbyismus der deutschen Tabakindustrie war oft nicht von demjenigen Reemtsmas zu unterscheiden. Daher behandelt das Buch vorrangig das Verhältnis Philipp Reemtsmas zu Politikern und Behörden sowie seine Rolle in Verbänden, Netzwerken und Kartellen. Das "Dritte Reich" klagte ihn zunächst wegen früherer Gesetzesverstöße an. Nachdem er sich die Protektion Görings mit gigantischen Summen erkauft hatte, stieg er zu einem Günstling des Regimes auf. Der "nationalsozialistische Musterbetrieb" profitierte durch den Einstieg in Vierjahresplanindustrien direkt von der Aufrüstung und beteiligte sich im Krieg unmittelbar an der Ausbeutung der besetzten Territorien.
Es folgten 1945 bis 1948 die Internierung Reemtsmas und die Treuhandverwaltung des Unternehmens, bevor er als "politisch unbelastet" entnazifiziert wurde und rechtzeitig für das "Wirtschaftswunder" an die Spitze seines Imperiums zurückkehrte. Zu den wichtigsten Erfolgen zählte die Beeinflussung der Steuergesetzgebung. Erneut erwies er sich als überlegener Stratege. Viele kleine Konkurrenten fielen nun der rasch voranschreitenden Marktbereinigung zum Opfer. Jedoch gewährte Reemtsma den überlebenden Mittelständlern durchaus Entfaltungsräume. Zum einen inszenierte er sich gerne als Schutzherr der gesamten Branche, zum anderen hatte er Angst vor Gegenmaßnahmen Bonns, vor allem vor einem staatlichen Tabakmonopol.
Der Aufstieg Reemtsmas beruhte auf berechnender Machtpolitik, wobei er die Grenzen zum blanken Opportunismus und kriminellen Handeln mehrfach überschritt. Steuerhinterziehung, Korruption und Industriespionage gehörten zeitweilig zum Handwerkszeug. Der unbedingte Aufstiegswillen ging Hand in Hand mit ethischer und politischer Indifferenz. Diese Geschichte unternehmerischer Macht beruht auf der sorgfältigen Auswertung von Originaldokumenten und ist flüssig und fast ohne Fachjargon geschrieben. Sie argumentiert stets sachlich fundiert und ohne Anklagegestus. Umso klarer tritt die dunkle Seite dieser unternehmerischen Erfolgsgeschichte hervor.
HARTMUT BERGHOFF
Der Verfasser leitet das Deutsche Historische Institut in Washington und lehrt Wirtschaftsgeschichte an der Universität Göttingen.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Dem spektakulären Aufstieg des Familienunternehmens Reemtsma und den Ursachen seines Erfolges widmet sich diese neue Unternehmensgeschichte von Tino Jacobs. Rezensent Hartmut Berghoff rekapituliert kurz einige wesentliche Stationen dieser Erfolgsgeschichte. Berghoff zufolge konzentriert sich die Darstellung weniger auf die kluge Unternehmensführung in der Aufbauphase der 20er Jahre als auf den Umgang mit Macht als Schlüssel zum Erfolg. So gelang es dem Unternehmen durch Opportunismus und Bestechung, von der Politik der Nazis zu profitieren. In der Nachkriegszeit konnte sogar die Steuergesetzgebung zu eigenen Gunsten beeinflusst werden. Eine geschickte Machtpolitik, Überschreitungen der Grenzen der Legalität sowie ethische und politische Indifferenz hielten das Unternehmen auch über historische Brüche hinweg an der Spitze seiner Branche, konstatiert Berghoff. Er bescheinigt dem Autor eine sorgfältige Quellenauswertung und einen flüssigen und verständlichen Stil und lobt die sachliche Argumentation, die auf einen Anklagegestus verzichte. Gerade deswegen trete die "dunkle Seite dieser unternehmerischen Erfolgsgeschichte" zutage.
© Perlentaucher Medien GmbH
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