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Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent Paul Ingendaay liest die von Esther Kinsky übersetzten und herausgegebenen Prosaskizzen von John Clare mit großer Empathie für den britischen Lyriker, der als Bauernjunge das Lesen und Schreiben für sich entdeckte, nach einigen Erfolgen jedoch als Schriftsteller scheiterte und in einer Psychiatrie endete, wie der Kritiker erklärt. Von den zarten Schreibanfängen, deren Verheimlichung gegenüber seinen Eltern und von Clares Liebe zur Natur erfährt der aufgewühlte Rezensent aus diesem Band, der "intimen Beichte" eines Jungen, so Ingendaay, aus der "Sätze von bestürzender Hellsichtigkeit hervorblitzen". Auch Kinskys Übersetzungsarbeit lobt der Rezensent, die gerade der authentischen, von starren Grammatikregeln sich freimachenden Schreibweise des Lyrikers gerecht werde.

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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.11.2020

Lesen im endlosen Buch der Natur

Fremder Poet in seiner eigenen Welt: Esther Kinsky präsentiert Prosa des englischen Romantikers John Clare und bewahrt dessen Originalität.

Von Paul Ingendaay

Ob Keats oder Shelley, Byron oder Wordsworth, die englische Lyrik wird in Deutschland nur von einer winzigen Minderheit und wie durch einen Nebel wahrgenommen, weil die Sprache nun einmal eine Barriere darstellt, so dass keiner der in Großbritannien verehrten Dichter einen Platz im Alltagsleben der Deutschen einnimmt, kaum eine einzige Zeile hierzulande die zweihundert Jahre seit ihrer Entstehung überdauert hat. Man muss das nicht beklagen. Aber es bedeutet, dass die beiden Länder, die so viel voneinander wissen, radikal unterschiedliche Kollektivvorräte an Versen, Bildern und Weisheiten besitzen.

Ausgerechnet einer der Außenseiter der englischen Romantik, John Clare (1793 bis 1864), hat jüngst Aufmerksamkeit auf sich gezogen, weil sein Schicksal eine eigene Geschichte jenseits des Dichterischen erzählt: Als armer, lückenhaft gebildeter peasant poet aus der kargen Fennlandschaft von Northamptonshire lieferte er Naturlyrik von ungewöhnlicher Schönheit, scheiterte jedoch als freier Autor und verbrachte die letzten 27 Jahre seines Lebens in der Nervenheilanstalt. Die kurz nach seinem Tod erschienene Biographie von Frederick Martin - seinerseits Außenseiter des literarischen London - lässt die weiten Ausschläge der Existenz eines hochbegabten Depressiven ahnen, dessen Lebensleistung bis heute im Licht seines tragischen Scheiterns steht.

Neben romantischer Projektion zeigen einige Züge des Dichters erst jetzt ihre Aktualität: Nach neuerer Erkenntnis hat Clare in seiner Dichtung ohne jede zoologische Vorbildung 147 englische Vogelarten erfasst und allein für die Grafschaft Northamptonshire dabei 65 Erstbeschreibungen geliefert. Damit könnte man ihn an die Seite des Amerikaners John James Audubon stellen, der im neunzehnten Jahrhundert das ornithologische Universum Amerikas in klassisch gewordenen Darstellungen malte und in sprachmächtigen, wie auf Königsadlerschwingen emporschießenden Essays beschrieb. Manche sehen in dem Briten Clare durch sein intuitives Beharren auf ungekünstelter Naturbeobachtung - und durch sein Scheitern am Establishment - sogar einen frühen "Öko-Krieger". Clare war selbst Viehhirte, Dreschgehilfe, Gärtner, Kalkbrenner, Landarbeiter, und seine Poesie wuchs direkt aus dem täglichen Kontakt mit der ostenglischen Natur.

Das Hauptverdienst an Clares Entdeckung in Deutschland gebührt der Schriftstellerin und Übersetzerin Esther Kinsky, in deren literarischem Werk Naturschilderung eine überragende Rolle spielt. Bei Matthes & Seitz erschien 2017 der Band "Reise aus Essex", eine Schilderung der Flucht des Autors aus seiner ersten Anstalt - die 150 Kilometer seines Heimwegs bewältigte er in vier Tagen, in welchen er sich vor allem von Gras ernährte. In diesem Jahr hat der kleine Verlag Golden Luft aus Mainz, abermals in Kinskys Übertragung, eine bibliophile Broschur mit autobiographischen "Skizzen aus seinem Leben" nachgelegt. Es handelt sich um eine Schilderung für Clares Verleger John Taylor in London, eine Epistel in jene Welt also, in der der Autor nach dem Sensationserfolg seines ersten Gedichtbands (1820) gescheitert war.

Die vierzig Seiten sind eine aufwühlende Lektüre: eine rohe "Selberlebensbeschreibung", ein ungeschütztes Gedankentagebuch, das sich hier und da mit formelhaften Spruchweisheiten panzert, vor allem aber die intime Beichte eines Jungen, der sich von Beginn an als Außenseiter empfand und erst im Lesen, dann im Schreiben vorübergehend Rettung fand. Diese Aufzeichnungen von 1821 gelten als einer seiner frühesten Prosaversuche, berühren also noch nicht die spätere Verzweiflung und die untergrabene Gesundheit des siebenfachen Vaters, der nie ganz Literat werden konnte, aber auch nicht mehr den Weg zurück zum einfachen Landleben fand. Die Verführung durch Alkohol wird angedeutet, aber nicht ausgemalt - moderne Autoren sagen Clare Frauengeschichten und Saufexzesse nach. Seine Liebeslyrik richtete sich an seine Jugendliebe Mary, die weit über seinem Stand war und, passend zum romantischen Klischee, zeitlebens unverheiratet blieb und früh starb.

Draußen zu sein, in der Natur umherzulaufen oder in den Himmel zu schauen, darin bestand Clares äußeres und inneres Theater. Aus der Beschreibung dieses armen, begrenzten Lebens blitzen Sätze von bestürzender Hellsichtigkeit hervor. Der radikale Subjektivismus lässt ahnen, dass Clare sich als Opfer der Konventionen begriff, schafft es aber immer wieder, ein eigenes Reich auszumessen. John Clares Vater konnte nur wenig, seine Mutter gar nicht schreiben. Ein Landbursche durfte nicht dabei gesehen werden, wie er "auf offner Strasse an einem Werktag las", und die ersten Schreibversuche hielt der kleine John geheim oder gab sie als Reime eines anderen aus, die er nur kopiert habe. Jedes Zettelchen, jedes Stück Papier in dem bücherlosen Haushalt griff der Junge sich, um es zu beschreiben. Der "Gramattick", die er als starres Regelsystem empfand, gehörte auch später seine ganze Ablehnung. Seine Rechtschreibung blieb wechselhaft, und auf Interpunktion verzichtete er ganz.

Esther Kinsky bewahrt den authentischen Charakter von Clares Prosa auch in der deutschen Fassung. Bekanntlich ist es schwierig, "falsch" zu schreiben, ohne dem Leser auf die Nerven zu gehen. Von "Gelehgenheit" ist die Rede, von "Schranck", "Inbrunzt" und "Sinnirungen". Hin und wieder schlägt Kinsky aus der orthographischen Regellosigkeit komisches Kapital, etwa wenn die Muße hier als "Mussestunde", dann wieder vielsagend als "Muse" erscheint. Damit leistet dieses schön gedruckte poetische Heft dasselbe, was der kleine John Clare durch beständige Schreibübungen zu lernen hoffte, nämlich "Gezirtheit und Unechtes vom Natürlichen zu unterscheiden".

John Clare: "Raunen des Winds und bebende Distel". Skizzen aus seinem Leben.

Aus dem Englischen und mit Nachwort von Esther Kinsky. Golden Luft Verlag, Mainz 2020. 44 S., br., 18,- [Euro].

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