Als Sehnsuchtstier durchzieht die Wildgans die jüngere Geschichte. Als das Leben in den Städten des 19. Jahrhunderts schwer erträglich wird, weist sie den Weg in die Natur. In Selma Lagerlöfs Roman «Nils Holgerssons wunderbare Reise» eint sie die schwedische Nation, indem sie einem missratenen Knaben den Sinn von Gemeinschaft offenbart, was auch den deutschen Lesern zum Vorbild wird. Im Ersten Weltkrieg wird sie von den Soldaten in den Schützengräben besungen und ist wenig später in der europäischen Kultur allgegenwärtig: als Wappentier des Naturschutzes, als Heldin der Revolution bei Bertolt Brecht ebenso wie als «Charaktertier des Nordens» bei Bengt Berg, Tierfotograf und Schriftsteller, dessen Träume von germanischen Urlandschaften in die Ideologie des Nationalsozialismus eingehen, im Film, in der Kunst, nicht zuletzt in der Wissenschaft, wo der Zoologe Konrad Lorenz glaubt, in der Graugans die durch die Zivilisation bedrohten Fundamente menschlichen Zusammenlebens entdeckt zu haben. Überall, wo die Wildgans auftritt, wird sie zur Chiffre einer Welt im Umbruch. Thomas Steinfeld folgt ihren Spuren - und zeichnet ein fesselndes Bild des 20. Jahrhunderts.
Steinfelds Sätze sind elegant, verführen. Sibylle Lewitscharoff
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Joseph Hanimann watschelt begeistert neben dem deutschen Schriftsteller und der nordeuropäischen Wildgans - dem Sujet dieser bereichernd ausschweifenden Studie - durch die Zeitgeschichte. Auch wenn der Rezensent die Wahl der Gans als Symbolwesen größerer kultureller Zusammenhänge zunächst kurios findet, kann ihn die Gans in den Händen des Autors doch überzeugen. So liest Hanimann von der Gans als "Sehnsuchtswesen grenzenloser Wanderschaft" in der Literatur, etwa bei Theodor Storm, als Symboltier für die Bewusstseinsbildung im Kindesalter bei "Nils Holgerssons wunderbarer Reise" oder begegnet der Gans auch als wichtiges Studienobjekt der frühen Evolutionsbiologie. In einem locker-anekdotischen Stil vermische der Autor Persönliches und Nebensächliches elegant mit sachlich ausgebreitetem Wissen, das dabei jedoch nie pedantisch wirke. Dass der vielfältige Ansatz manche Themen, darunter die Tragweite des Darwinismus im 20. Jahrhundert, nicht ganz ausloten kann, stört den Rezensenten nicht. Er freut sich lieber darüber, dass ihn die zahlreichen Verweise und Querbezüge dazu motivieren, den Spuren der Gans auch außerhalb des Textes weiter zu folgen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Unglaublich interessant ... sehr gelungen. ZEIT Podcast "Was liest Du gerade"







