Während eines Meetings verwandeln sich alle Vorstandsmitglieder in Frösche. Kurz vor seiner Operation findet ein Patient im Krankenhaus Zuspruch bei einer Eule. Das letzte Nashorn wird unter Applaus auf einem Zebrastreifen erschossen. Im 87. Stock führen Krokodile unbemerkt ein sehr komfortables Leben.
Der Ausnahmekünstler Shaun Tan beleuchtet in seinem neuesten Werk das sonderbare Verhältnis zwischen Mensch und Tier und schildert in traumartigen Sequenzen, wie Liebe und Fürsorge nicht selten Gleichgültigkeit und Grausamkeit gegenüberstehen.
Die insgesamt 25 ganz unterschiedlichen Texte, die jeweils um doppelseitige Ölbilder ergänzt werden, wirken poetisch und düster, bergen aber auch viel Witz und Wärme und dringen tief ins Herz unserer urbanisierten Welt vor.
Der Ausnahmekünstler Shaun Tan beleuchtet in seinem neuesten Werk das sonderbare Verhältnis zwischen Mensch und Tier und schildert in traumartigen Sequenzen, wie Liebe und Fürsorge nicht selten Gleichgültigkeit und Grausamkeit gegenüberstehen.
Die insgesamt 25 ganz unterschiedlichen Texte, die jeweils um doppelseitige Ölbilder ergänzt werden, wirken poetisch und düster, bergen aber auch viel Witz und Wärme und dringen tief ins Herz unserer urbanisierten Welt vor.
Shaun Tan erzählt in "Reise ins Innere der Stadt" über die Wunder, die Tiere uns bereiten - real und imaginär.
Von Andreas Platthaus
Shaun Tan ist seit seinem annus mirabilis 2011, als er erst den Oscar (für den Trickfilm "Lost Thing") und dann den Astrid-Lindgren-Gedächtnispreis (für sein Gesamtwerk) gewann - beides in ihren jeweiligen Sparten, Film und Kinderbuch, die höchste Auszeichnung weltweit -, der prominenteste Jugendbuchillustrator unserer Zeit. Doch daran trägt er offenbar leicht, denn was Tan seitdem in den für ihn typischen großen Abständen publiziert hat, ist jeweils so ungewöhnlich, als wäre er ein Formwandler. Erst kamen plastische Umsetzungen von Grimmschen Märchenfiguren (für deren Nacherzählungen durch Philip Pullman), dann das geheimnisvolle Bilderbuch "Die Regeln des Sommers" und nun ein neues Werk namens "Reise ins Innere der Stadt", das sich jeder eindeutigen Klassifikation entzieht.
Ja, es ist ein Bilderbuch, denn es gibt allein 43 doppelseitige Illustrationen darin, dazu 25 Vignetten und eine grandios kombinierte Vorund Nachsatzzeichnung, und nein, es ist kein Bilderbuch, denn die großen Illustrationen sind meist jeweils nur als Coda einer einzelnen Erzählung angefügt und gehen kein unmittelbares Bündnis mit diesen Texten ein. Ja, es ist eine Erzählungssammlung, und nein, es ist keine, denn die 25 jeweils einer animalischen Daseinsform gewidmeten Kapitel ergeben als Kompositum das Porträt einer Großstadtszenerie, in der die Tiere so etwas wie stille Begleiter und eigentliche Herren des menschlichen Lebens sind. Und ja, es ist ein Kinderbuch, und nein, es ist kein Kinderbuch. Aber auch kein Buch für Erwachsene. Oder gerade das.
Warum? Weil Shaun Tan das Kunststück fertigbringt, mit allen literarischen Wassern gewaschene Erzählungen zu schreiben und zugleich die kindliche Unvertrautheit mit Prosa von Kafka, Borges oder Philip K. Dick als Kalkül miteinzubeziehen, denn im Stande der literarischen Unschuld eröffnet sich der Reiz des Tanschen Tons sicher genauso zuverlässig, doch man wird nicht abgelenkt durch seine vielfältigen Reminiszenzen. Nicht eine intellektuelle Forschungs-, sondern eine emotionale Abenteuerreise wird man dann erleben, und das wird dem Grundinteresse von Shaun Tan gerechter, der 1974 als Kind malaiischer Auswanderer in Australien geboren wurde und die abenteuerliche Familien- wie seine eigene geborgene Jugendgeschichte als gleichermaßen selbstverständlich empfunden hat. In seinem Meisterwerk, dem 2006 erschienenen Comic "The Arrival" (auf Deutsch "Ein neues Land"), ist beides perfekt miteinander verschränkt.
Dieser Band war ganz wortlos, nur in Bildern erzählt. "Reise ins Innere der Stadt" lebt nun vor allem aus den Texten. Wobei die Bilder meisterhaft genug sind und es auch ein Kapitel gibt (zum Hund), das ein eigenes Bilderbüchlein im großen Buch ist: Dreizehn doppelseitige Illustrationen begleiten da ein kurzes Prosagedicht, und hier herrscht einmal Interaktion, obwohl Bilder und Text zwei unterschiedliche Geschichten zu erzählen scheinen. In der Strenge der literarischen wie der illustrativen Form ist dieser Abschnitt so etwas wie das Herz des Buchs.
Doch jede andere Erzählung darin darf ebenfalls für sich in Anspruch nehmen, ein lebensnotwendiges Organ dieses Geschichtenkorpus zu sein. So etwa die Erzählung zu den Eulen, auch sie übrigens von mehreren Illustrationen begleitet und wie ein Prosagedicht gesetzt. 61 Zeilen lang ist sie nur, doch die reichen aus für ein Plädoyer gegen die Angst vor Krankenhäusern. Was hier pädagogisch klingen mag, ist meisterlich verpackt ins Phantasma einer engelgleichen Begleitung der Kranken durch eine je individuelle Schutzeule - schneeweiß, als trüge sie einen Arztkittel: "Sie weiß nur eines, / ein kaltes Faktum, auf immer in Schweigen gehüllt: / Mit der Zeit wirst du gesund sein. / . . . . / jedes mal, wenn ich mich in Furcht an sie wende, / tue ich es voller Freude, / weil Eulen sich niemals irren". Das obligatorische Schlussbild zeigt dann das abendlich erleuchtete Spital, und in jedem Fenster ist ein kleiner weißer Schemen zu sehen.
Oder die Erzählung vom großen Katzensterben, bei dem sich aber herausstellt, dass all die trauernden Herrchen und Frauchen um dasselbe Tier klagen, das nur schlau genug war, sich von allen verwöhnen zu lassen. Und so sind Tans Protagonisten in dieser Episode, eine Frau und ihre kleine Tochter, auf der Begräbnisfeier getröstet: "Das Reden, das Seufzen, das Lachen und Schluchzen, das alles verband sich wie das Geräusch von schwarzem Wasser, das der Mutter um die Ohren brandete, nicht laut und tönend, wie sie sich eine solche Vernichtung immer vorgestellt hatte, sondern leise, wie Schaum, der im Küstensand versickert, und da weinte sie dann schließlich. Ihre Tochter blickte auf: ,Das ist das Geräusch von Schleppi, wie er vom Sofa springt und auf die Feuerleiter läuft', sagte sie. Und da war die tollste Katze der Welt weg, einfach so."
Shaun Tan nimmt die jeweiligen Tier-Klischees auf und überführt sie in eine phantastische Welt, die durch den Einbruch des Animalischen in die Stadt nichts Vertrautes mehr hat, aber doch immer noch etwas zutiefst Anheimelndes. Sein Buch ist zudem ein leidenschaftliches Plädoyer für Mitkreatürlichkeit. Und es enthält am Schluss, im Kapitel über Menschen, den bewegendsten Satz: "Hai, Bär, Krokodil, Eule, Schwein, Lungenfisch, Mondfisch, Papagei, Schmetterling, Biene, Flusspferd, Tiger, Hund, Schnecke, Katze, Schaf, Pferd, Yak, Orca, Nashorn, Fuchs . . . immerhin haben wir ihnen unsere schönsten Wörter gegeben." Und Shaun Tan sein schönstes Buch.
Shaun Tan: "Reise ins Innere der Stadt".
Aus dem Englischen von Eike Schönfeld. Aladin Verlag, Hamburg 2018. 288 S., Abb., geb., 28,- [Euro]. Ab 10 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Dieses Buch tut das, was große Literatur leisten kann; Mut zu machen, wo scheinbar kein Ausweg zu sehen ist." Kulturfalter 20190320