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1941 begann im Warschauer Ghetto eine unglaubliche Geschichte: der junge jüdische Historiker Emanuel Ringelblum organisierte ein Netz von Mitarbeitern, die im Untergrundarchiv «Oyneg Shabes» das Leben unter deutscher Zwangsherrschaft minutiös für die Nachwelt dokumentierten, also sehr häufig die Umstände ihres eigenen Todes. Auch der junge Marcel Reich-Ranicki gehörte zu diesem Kreis. Als dann die sogenannte Große Aussiedlung in das Vernichtungslager Treblinka begann, sicherten Mitarbeiter des Archivs ihre wertvollen Bestände in Metallkästen und großen Milchkannen und vergruben sie unter…mehr

Produktbeschreibung
1941 begann im Warschauer Ghetto eine unglaubliche Geschichte: der junge jüdische Historiker Emanuel Ringelblum organisierte ein Netz von Mitarbeitern, die im Untergrundarchiv «Oyneg Shabes» das Leben unter deutscher Zwangsherrschaft minutiös für die Nachwelt dokumentierten, also sehr häufig die Umstände ihres eigenen Todes. Auch der junge Marcel Reich-Ranicki gehörte zu diesem Kreis. Als dann die sogenannte Große Aussiedlung in das Vernichtungslager Treblinka begann, sicherten Mitarbeiter des Archivs ihre wertvollen Bestände in Metallkästen und großen Milchkannen und vergruben sie unter Gebäuden des Ghettos.
Samuel D. Kassow schildert erstmals ausführlich die Entstehung des Ghettoarchivs, beschreibt die Lebensgeschichte Ringelblums und die verschiedenen jüdischen politischen Gruppierungen. Die Darstellung der Arbeit im Archiv ist mit der Ghettogeschichte untrennbar verbunden und ermöglicht einen tiefen Einblick in das Schicksal der Verfolgten in ganz Polen. Dieses Buch macht Vergessenes wieder erinnerbar.
Autorenporträt
Samuel D. Kassow, geb. 1946, ist Professor für osteuropäische Geschichte am Trinity College, Hartford, Connecticut. Er lehrt Russische und Jüdische Geschichte und hielt in zahlreichen Ländern Vorlesungen, auch in Israel, Russland und Polen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.10.2010

Einsamer Chronist im Bunker

Der jüdische Historiker Emanuel Ringelblum dokumentierte das Leben und Leiden im Warschauer Getto. Sein Archiv überstand den Zweiten Weltkrieg.

Von Hans-Jürgen Döscher

Eine Chronik aus Warschau, vergraben für die Nachwelt. Kaum war das Buch des amerikanischen Historikers Samuel D. Kassow im Juli erschienen, lagen auch schon die ersten Einschätzungen in elektronischen Medien vor. "Brandsatz in der Blechkiste" und "Hölle des polnischen Judentums" titelten große Periodika in ihren Online-Ausgaben. Im Mittelpunkt der Besprechungen standen die Entstehung eines geheimen Archivs in Warschau während der deutschen Besatzung und dessen spektakuläre Ausgrabung nach dem Zweiten Weltkrieg. Sensationslüsterne Berichterstattung und Effekthascherei obsiegten über Substanz und Tragweite der Funde - auf den ersten Blick. Der historiographische Stellenwert der Aufzeichnungen wurde nicht ausgelotet.

Etwas mehr Aufklärung vermittelt der Klappentext: Im September 1946 seien bei Grabungen in Warschau "große Metallkisten und Milchkannen zutage gefördert" worden, in denen Hunderte von Dokumenten versteckt waren. Der Fundort lag unter den Ruinen des ehemaligen Gettos. In den Kisten waren Manuskripte und diverse Unterlagen konserviert, die der im Getto eingeschlossene Historiker Emanuel Ringelblum (1900-1944) zusammengestellt hatte, "um den Prozess des Massenmordes an den polnischen Juden für die Nachwelt minutiös zu dokumentieren". Auch Marcel Reich-Ranicki, der eine Stelle als Schreibkraft beim Judenrat innehatte, habe Kopien von relevanten Dokumenten deutscher Provenienz geliefert.

Kassow, Professor für Osteuropäische Geschichte in Connecticut, schildert nicht nur die Geschichte des Archivs und des Warschauer Gettos. Er zeichnet einfühlsam Ringelblums Leben nach und analysiert kenntnisreich dessen Aufzeichnungen zum wechselvollen Verhältnis zwischen Juden und Polen. Neben sozialpolitischen Aspekten und Hilfsmaßnahmen zur Selbsthilfe (jiddisch: Aleynhilf) bilden Möglichkeiten und Grenzen des jüdischen Widerstandes gegen die deutschen Besatzer ein zentrales Leitmotiv in Ringelblums Darstellungen. Seine Notiz vom 15. Oktober 1942 offenbart Ratlosigkeit und Schmerz in einer Sequenz bedrückender Fragen: "Warum gab es keinen Widerstand, als die Deutschen 300 000 Juden aus Warschau [nach Treblinka] deportierten? Warum ließen sich die Juden wie Schafe zur Schlachtbank führen? Warum hatte der Feind so leichtes Spiel? Warum gab es kein einziges Todesopfer auf Seiten der Mörder? Wie konnte es sein, dass 50 SS-Männer mit Hilfe von 200 Ukrainern und Letten diese Aufgabe so einfach durchführen konnten?"

Mit etwas Abstand zum Geschehen fand Ringelblum differenzierte Antworten, die auch noch heute plausibel erscheinen: Die Juden hätten es mit einem "heimtückischen und gewissenlosen Gegner" zu tun, "der sich einer tödlichen Kombination aus Täuschung und überwältigender Gewalt bedient" habe. Das Vernichtungsprogramm gleiche einem militärischen Feldzug, der auf Überraschung, Irreführung und konzentrierte Übermacht setze. Außerdem hätten die Deutschen Gegensätze und Spannungen innerhalb der jüdischen Gesellschaft genutzt und sich "mit großem Geschick einer fünften Kolonne bedient - der jüdischen Polizei und eines Heeres von Spitzeln". Schließlich hätten die Deutschen "das bewundernswerte Verlangen vieler Juden ausgenutzt, die Schwachen und Verwundbaren nicht im Stich zu lassen; diese Juden hätten Kinder und Eltern auf ihrem Weg in den Tod begleitet, auch um den Preis ihres eigenen Lebens."

Immer wieder kommen in den Berichten vieler Gettobewohner Hass und Wut, aber auch Scham über die Kollaboration der jüdischen Polizei mit der deutschen Besatzungsmacht zum Ausdruck. Bei den Razzien vor geplanten Deportationen habe jeder Polizist eine bestimmte Anzahl "Köpfe" abliefern müssen. Wer diese Zahl nicht erreichte, dem drohte mitsamt seiner Familie ebenfalls die Deportation. "Infolgedessen verwandelten sich die jüdischen Polizisten, darunter viele Akademiker, in brutale Bluthunde." Manche steckten bei ihrer Arbeit hohe Schutzgelder dafür ein, dass sie Einzelne verschonten. Nach dem jüdischen Aufstand im Warschauer Getto und der Massenflucht aus dem Getto im April/Mai 1943, Vorgänge, die die angebliche Untätigkeit und Duldsamkeit der Juden widerlegten, verschrieb sich Ringelblum ganz seiner Mission als Historiker.

Das Getto lag zwar in Schutt und Asche, das Archiv konnte jedoch auf der "arischen" Seite der Stadt Warschau weitergeführt werden. Ringelblum wurde nach dem Tode seiner engsten Freunde zum einsamen Chronisten in einem überfüllten Bunker. Trotz der unzuträglichen Bedingungen entstand eine, wenn nicht die herausragende Arbeit aus seiner Feder über die "polnisch-jüdischen Beziehungen während des Zweiten Weltkrieges". Er schrieb dieses Werk in polnischer Sprache, entgegen seiner Vorliebe für das Jiddische. Kassow nimmt zu Recht an, dass er damit die polnischen Leser ansprechen wollte - jene Leserschaft, die vor dem Krieg nichts hatte wissen wollen von jüdischen Historikern. So sehr Ringelblum die Tapferkeit und den Mut vieler Polen im Kampf gegen die deutschen Besatzer schätzte, so kritisch urteilte er über das Verhalten der polnischen Zivilgesellschaft gegenüber ihrer jüdischen Bevölkerung: "Das polnische Volk hätte die Nazis nicht von ihrer Vernichtungspolitik abbringen können. Aber man darf wohl fragen, ob die Haltung des polnischen Volkes angesichts des gewaltigen Unglücks der Juden angemessen war. Als die ,Todeszüge' in verschiedene Teile des Landes, nach Treblinka oder zu anderen Hinrichtungsplätzen fuhren, fielen die letzten Blicke der Juden auf Gottes Welt, auf gleichgültige oder sogar zufriedene Gesichter der Nachbarn."

Viele Polen "schauten weg", als ihre jüdischen Mitbürger ermordet worden seien. Ringelblum folgte dennoch seinem Credo, sine ira et studio, also ohne Zorn und Eifer, über die polnisch-jüdischen Beziehungen zu schreiben. Es sei ihm aber nicht leichtgefallen, "sich über die Leidenschaften zu erheben und Objektivität zu bewahren". Im März 1944 wurde Emanuel Ringelblum von Deutschen in den Ruinen des Warschauer Gettos erschossen. Sein Werk bleibt mit den Worten des Biographen Samuel Kassow eine "einzigartige Synthese aus der Unmittelbarkeit zeitgenössischer Zeugenberichte und der analytischen Sachlichkeit des aus der Distanz schreibenden Historikers". Dank der vorzüglichen Übersetzung von Karl Heinz Siber ist ein gut lesbares Buch entstanden, dem eine weite Verbreitung zu wünschen ist.

Samuel D. Kassow: Ringelblums Vermächtnis. Das geheime Archiv des Warschauer Ghettos. Deutsch von Karl Heinz Siber. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2010. 751 S., 39,95 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Dankbar nimmt Andreas Kossert dieses Buch des amerikanischen Historikers Samuel Kassow auf, der darin den Archivaren des Warschauer Ghettos ein Denkmal setzt. Was das Archiv Oyneg Shabbes (Die Freude des Sabbat) um Emanuel Ringelblum von 1940 bis 1943 an Briefen und Dokumenten aus dem schrecklichen Ghetto-Alltag gesammelt hat, war Fachleuten schon immer zugänglich, nicht aber der Öffentlichkeit, erklärt der Rezensent, der Kassows Verdienst in dieser Hinsicht gar nicht genug würdigen kann. Sehr bewegt berichtet er von "Niedergeschlagenheit, Wut, Scham und Angst", die ihm aus den bedrückenden Zeugnissen entgegenschlagen, von verzweifelten Hilferufen, entsetzlichem Hunger und Tod. Einen "wertvollen Schatz" habe Kassow hier geborgen, meint der Rezensent, der auch darauf hinweist, wie "glänzend" das Buch geschrieben sei.

© Perlentaucher Medien GmbH