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Produktdetails
  • Verlag: Penguin UK
  • Seitenzahl: 1014
  • Englisch
  • Abmessung: 200mm
  • Gewicht: 616g
  • ISBN-13: 9780140259278
  • Artikelnr.: 10082740
  • Herstellerkennzeichnung
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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.10.1996

Sonderweg zum Schafott
Richard J. Evans schreibt die Geschichte der Todesstrafe in Deutschland / Von Michael Stolleis

Paul Celans bleischweres Wort, der Tod sei "ein Meister aus Deutschland", begleitet den Leser unwillkürlich, wenn er seine lange Wanderung durch die Geschichte der Todesstrafe in Deutschland von Richard J. Evans antritt. Der am Birkbeck College der University of London lehrende Historiker, berühmt geworden durch sein Werk über die Cholera im Hamburg des 19. Jahrhunderts (1987), läßt hier einen Strom von Schicksalen an uns vorüberziehen: die Opfer der Vierteilung und des Räderns, die ertränkten oder enthaupteten Kindsmörderinnen, die verbrannten Hexen, die enthaupteten Räuber und Mörder, die gehenkten Diebe, die Opfer der Politik und des Rassenwahns. Sie alle wurden "exekutiert". Das Buch ist deshalb auch dem Gedächtnis derer gewidmet, die in Deutschland und anderswo "ungerechterweise hingerichtet" wurden. Und jene anderen, fragt man sich, deren Hinrichtung dem Urteil ihrer Zeit "gerecht" erschien, waren sie nicht auch Opfer eines heute überwundenen atavistischen Kultus, dessen zentrales Dogma lautete, es müsse auf Tötungen wieder mit Tötungen geantwortet werden?

Damit sind wir schon mitten im Problem. Das Recht des Staates, im Rahmen der Rechtsordnung und eines schützenden Rituals dem Rechtsbrecher das Leben zu nehmen, ist in ganz Europa bis ins 18. Jahrhundert kaum ernstlich bezweifelt worden. Heute sind sich die europäischen Staaten gerade umgekehrt einig im Verzicht, ohne sich feilich Illusionen über die Volksmeinung zu machen. Evans beschreibt, wie es zu einer solch fundamentalen Umkehr gekommen ist. Das geht nicht ohne Emotion und nicht ohne Werturteile. Kühle Historisierung scheint ausgeschlossen. Der Leser wird aufgewühlt durch den Blick in die Tiefen menschlicher Destruktivität, psychischer Reinigungs- und Entlastungsmechanismen, in die Bedürfnisse der Ritualisierung und Verfremdung der Ängste einer Gesellschaft, die nach Rache und Vergeltung, Abschreckung und Sicherheit ruft, sich aber nicht beschmutzen will, also das "Böse" auf den Täter projiziert und sich schaudernd vom Scharfrichter abgrenzt. Aber Evans demonstriert, wie man ein solches Thema bewältigen kann: theoriegeleitet und detailversessen, sensibel und human, vor allem aber unbefangen gegenüber den Fachgrenzen von Sozial-und Rechtsgeschichte, Kultur-, Religions-und Ideengeschichte.

Evans schildert Rituale der "Vergeltung", zugleich aber auch der "Abschreckung"; denn es ging nicht nur um entsühnende Tötung oder um den Ausgleich der ins Wanken geratenen Rechtsordnung durch "Vergeltung", sondern auch um die zweckorientierte Pflicht der Obrigkeit, mit der Schärfe des Schwerts "gute Ordnung" zu schaffen. Erwartungsgemäß bedurfte die Todesstrafe, je mehr das sakrale Fundament zerbröckelte, einer immer stärkeren rationalen Legitimation. Der Fülle der Todesstrafen und der Unbedenklichkeit des obrigkeitlichen Folterns und Tötens im 16. Jahrhundert steht das stufenweise Verschwinden der Folter im 18. und der Todesstrafe im 19. und 20. Jahrhundert gegenüber.

Gleichzeitig wissen wir, daß noch nie zuvor so viele Menschen durch staatlichen Befehl und Terror umgekommen sind wie im 20. Jahrhundert. Liest man die Geschichte als einen kontinuierlichen Prozeß der sublimierenden Triebunterdrückung, der Sozialdisziplinierung und damit der Zivilisierung (Norbert Elias), dann muß man einräumen, daß sich gerade in unserer Zeit die Pforten der Hölle geöffnet zu haben scheinen. Also eine Springprozession des Fortschritts, und der Holocaust doch eine Art Unfall im Zivilisationsprozeß? Lesen wir sie als Verfallsgeschichte der Freiheit, als Verrat der Aufklärung an sich selbst hin zu einem mechanisierten Sklavendasein, dann scheinen sich, Michel Foucault zufolge, die blutigen Dämonen vergangener Gewalt in die Administratoren raffiniertester sozialer Fesselung des Individuums in gefängnisartigen Institutionen verwandelt zu haben.

Evans setzt sich sowohl mit der moderaten und von Skepsis durchtränkten Fortschrittsgeschichte von Norbert Elias und dessen Schüler Pieter Spierenburg auseinander als auch mit Foucaults, von Sade und Nietzsche gleichermaßen beeinflußten Schreckensgeschichte akkumulierter Zwänge. Er will als Historiker dem zu Leibe rücken, was "wirklich gewesen" ist, wohl wissend, daß das Resultat nicht mehr sein kann als eine subjektive Rekonstruktion aus Texten. Aber seine "Geschichte" löst sich deshalb nicht in Literatur und Diskurs auf; die Opfer wurden tatsächlich exekutiert, und Daumenschrauben und Streckbank, Richtschwert und Guillotine waren real existierende Werkzeuge der Marter. Was Evans vorschwebt, ist die histoire totale, die Verschmelzung von Makro- und Mikrohistorie, Diskurs- und Handlungsebene, von politischer Geschichte, Sozialgeschichte und Kulturgeschichte. Aus dem signifikanten rituellen Detail soll das Ganze verstanden werden.

Evans beginnt mit der Fülle der Körperstrafen des ausgehenden Mittelalters und dem großen Vorgang der Entstehung des modernen Staates, der das Strafritual als "a very public demonstration of sovereign and collective power" ausgestaltete. Dieser Teil hat gewisse Schwächen, insofern als die Zeit vor der Aufklärung zu flächig und uniform erscheint. Auch die Rolle des Kirchenrechts bei der Entstehung des Inquisitionsprozesses bleibt unterbelichtet, und schließlich hat die Darstellung der Folter, die zum Prozeß gehörte, hier eigentlich nichts zu suchen, zumal der Autor selbst sagt, "the interest of this book begins when trials end". Aber wie auch immer, Ausgangspunkt ist für Evans das Ritual des Ancien régime: Das Urteil wurde gesprochen, der Stab gebrochen, das Gnadengesuch an den Souverän verworfen, der Delinquent bereitete sich auf den Tod vor, aß die Henkersmahlzeit, geistlicher Beistand wurde gewährleistet, das Armesünderglöckchen wurde geläutet, es folgte der öffentliche Gang zum Schafott, um das die Zuschauer versammelt waren, die letzten Gebete und das letzte Wort wurden gesprochen, der Scharfrichter "waltete seines Amtes", und er zog seinen Vorteil aus dem Aberglauben und den Begehrlichkeiten des Publikums. Flugblätter und Predigten verbreiteten die "jämmerliche Geschichte".

Die Veränderungen, die sich nun in ganz Europa stufenweise durchsetzten, betrafen das Ritual, die Art der Strafen, die Rolle der Scharfrichter und die Akzeptanz in der Gesellschaft. Die grausam-bunte Vielfalt der Strafen reduzierte sich von 1500 bis 1800 allmählich auf die Enthauptung. Die Zahl der Hinrichtungen nahm trotz erheblicher Schwankungen in den Phasen der Destabilisierung kontinuierlich ab, sowohl durch gesetzgeberische Reduktion als auch durch die Gnadenpraxis. Parallel hierzu "verstaatlichte" sich das Ritual. Der Übergang "vom Leben zum Tod", rituell verwandelt in den Übergang zum "wahren Leben", verlor nicht nur den sakralen, sondern später auch den öffentlichen Charakter. Das ursprünglich frei zugelassene Publikum wurde zur Vermeidung "unerfreulicher Auftritte" durch einen militärischen Sicherheitskordon zurückgedrängt. Dann gab es Eintrittskarten für ein ausgewähltes Publikum von Honoratioren. Am Ende fanden die Exekutionen in den frühesten Morgenstunden, ja im geschlossenen Raum statt: Die Hinrichtung war nur noch Vernichtung eines "schädlichen Elements", dessen man sich schämte.

Die allmähliche Arkanisierung und Entsakralisierung der Todesstrafe bewirkten auch eine Zerstörung des Rituals selbst; am Ende stand die mechanisierte Massentötung. Damit wechselten charakteristischerweise auch die Instrumente der Hinrichtung, und der tabuisierte ("unehrliche") Henker, der als Privatunternehmer meist Abdecker war, wurde zum Justizvollzugsbeamten im Gehrock, ohne freilich bis zum Ende die Aura des schauerlichen "Angstmannes" zu verlieren. So erweist sich in der Tat das Ritual, die Inszenierung jenes Souveränitätsakts, als der eigentliche Schlüssel für das Verständnis gesellschaftlicher Ordnungsprinzipien und Wertvorstellungen.

Das Buch handelt aber nicht nur von den Ritualen der Todesstrafe und ihrer Abschaffung, sondern eben auch von Deutschland. Gewiß gibt es auf diesem Gebiet bis zum 20. Jahrhundert keinen wirklich belegbaren deutschen "Sonderweg". Evans zielt auch nicht in diese Richtung; denn alle europäischen Länder haben auf vergleichbare, teilweise viel drastischerer Weise die Todesstrafe eingesetzt und sich dann etappenweise von ihr verabschiedet, früher oder später, wie es eben der nationale Habitus, die Rechtskultur und die Konstellationen der politischen Geschichte erlaubten. Aber in Deutschland verknoteten sich im 20. Jahrhundert bestimmte Entwicklungsstränge zum technisierten, gigantischen Massenmord. Paul Celans Vers können wir nicht ausweichen. Auch für Evans bleibt diese Zivilisationskatastrophe das eigentliche Rätsel; er löst es nicht, aber man versteht am Ende doch besser, warum sich die Vorgänge nach 1933 in einer Weise kumulierten und akzelerierten, die noch heute Entsetzen hervorruft. Daß hieraus wiederum 1949 die verfassungsrechtlich gesicherte Abschaffung der Todesstrafe in der Bundesrepublik erwuchs, macht die deutsche Entwicklung immer noch nicht zum Sonderweg, aber doch exemplarisch.

Rückblickend versteht man, warum die Gegner der Todesstrafe, die Abolitionisten, seit der Mitte des 19. Jahrhunderts so langsam vorankamen. Der erste Sieg in der Paulskirche von 1848/49 war zugleich eine Niederlage, ein zweiter Anlauf bei der Reichsgründung Bismarcks blieb stecken, und die Attentate auf den Kaiser von 1878 setzten die faktisch schon eingestellten Hinrichtungen wieder in Gang. Wilhelm II. forcierte dies durch Versagung von Gnadenerweisen, und alle Welt um ihn herum glaubte nun an die vermeintliche biologische Wahrheit des "geborenen Verbrechers", gegen den nur Vernichtung zu helfen schien. Ein dritter Abschaffungsversuch in der Nationalversammlung von 1919 scheiterte, weil es zu gewagt schien, in solch unruhigen Zeiten auf das schärfste Mittel des Staates zu verzichten.

In Weimar rückte die Abschaffung dann wieder in greifbare Nähe, aber die Massenmörder Haarmann und Kürten - letzterer in Fritz Langs Film "M" mit Peter Lorre künstlerisch verwandelt - sowie der Fall Jakubowski veränderten wiederum das Klima, ganz abgesehen von der Reformunfähigkeit der zerfallenden Republik. In der NS-Zeit schnellten die zuvor gegen Null gegangenen Hinrichtungszahlen dann plötzlich nach oben. Der fast ausgestorbene Beruf des Scharfrichters hatte Konjunktur. Mehrere hundert Personen bewarben sich beim Justizministerium um dieses Amt. Patentschriften für effektivere Todesmaschinen wurden eingereicht. Tiefsitzende Ängste, Ordnungs-und Repressionswut brachen sich Bahn und steigerten sich, von innen angeheizt und von außen geschützt durch den Druck des Krieges, zur Vernichtung sogenannten "lebensunwerten Lebens", "sozial schädlicher Elemente" und des vermeintlichen "Rassenfeinds". Die Grenzen zwischen herkömmlichen Strafverfahren und einer beispiellosen Vernichtungsorgie brachen zusammen. Vor dem wahnhaften Blick auf die "Gegner" waren alle "Verunreinigungen des Volkskörpers" gleichermaßen todgeweiht.

Das Buch endet mit dem Einsatz der Todesstrafe durch die Alliierten, insbesondere in den Nürnberger Prozessen, und mit der erneuten Wiederaufnahme von Exekutionen durch die deutschen Behörden vor 1949. Die letzte deutsche Hinrichtung fand in West-Berlin zwei Wochen vor Inkrafttreten des Grundgesetzes statt. Daß die Abschaffung der Todesstrafe (Artikel 102 Grundgesetz) eine Art Überraschungssieg der Abolitionisten war, ist heute fast vergessen, ebenso die anhaltenden Versuche, die Entscheidung rückgängig zu machen. Gleichzeitig entfaltete sich in SBZ und früher stalinistischer DDR eine rabiate Exekutionspraxis. Sie lockerte sich erst mit der allmählichen Entstalinisierung bis zum faktischen (1975) und formellen (1987) Ende der Todesstrafe auch dort.

Das bedeutende und reich dokumentierte Buch besticht durch seine plastische und klar analysierende Sprache. Evans kennt nicht nur die Quellen, sondern auch die hiesige Forschungslandschaft. Die deutsche Kulturgeschichte und Rechtsgeschichte ist durch dieses Werk außerordentlich bereichert worden. Insgesamt bleibt der Eindruck einer großen Leistung, eines energischen und von kritischer Sympathie zeugenden Versuches, alte Problemlagen neu zu überdenken: "Rethinking German History".

Richard J. Evans: "Rituals of Retribution". Capital Punishment in Germany 1600- 1987. Oxford University Press, Oxford 1996. XXXII, 1014 S., Abb., geb., 55,- engl. Pfund.

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