In einem literarischen Rundgang durch Salzburg versammelt Karl Heinz Ritschel Historie und Anekdoten von der Keltenzeit bis in die jüngste Gegenwart: von spektakulären Funden wird erzählt, vom Gepränge der Erzbischöfe, von genialen Baumeistern, von Pest, Hexenwahn und Vertreibung.
Hier drängeln sich - in Frühling, Sommer, Herbst und Winter - Aberhunderttausende Fremde. Wer von ihnen mag ahnen, daß der Name Getreidegasse nicht das geringste mit Brot zu tun hat? Er kommt vom Traben der Pferde her. Auch das erfährt man in Karl Heinz Ritschels Salzburg-Buch. Jahrzehnte hindurch hat Ritschel die Redaktion der "Salzburger Nachrichten" geleitet und das Traditionsblatt zur angesehensten österreichischen Bundesländerzeitung gemacht. Seine Prinzipientreue schonte nicht einmal die Empfindlichkeiten der Abonnenten. Lieber verzichtete der konservative Waldheim-Kritiker auf Käufer, als sich ihnen wider besseres Wissen anzudienen. So gilt er in Österreichs Publizistik als Respektsperson.
Daß Ritschel nun, im journalistischen Ruhestand, den bereits in Hülle und Fülle verfügbaren Salisburgensien ein weiteres hinzufügt, scheint kein Wunder zu sein: Er kennt diese Stadt wie kaum ein anderer und ist offenbar im ganz altmodischen Sinn in sie verliebt. So entfährt dem Künder und Sänger ihrer Schönheit manches emphatische Rufzeichen. Allerdings trübt die Liebe seine Augen nicht, sondern schärft sie für unzählige Kleinigkeiten. Darin, in den bis ins kleinste gehenden Schilderungen architektonischer Besonderheiten, wirkt sein Kompendium über Salzburgs "Anmut und Macht" streckenweise ein bißchen mühsam. Derart genau will der halbwegs gebildete Durchschnittsleser all das in der Regel gar nicht wissen.
Der Reiz des Bandes liegt in den geschickt eingebauten Andekdoten und historischen Exkursen: Gerne erinnert man sich etwa der zölibatären Fruchtbarkeit des Fürsterzbischofs Wolf Dietrich von Raitenau, dem Salome Alt immerhin fünfzehn Kinder schenkte. Für die Seinen ließ der geistliche Herr das standesgemäße Altenau errichten, heute Schloß Mirabell. Der letzte regierende Landesherr auf dem erzbischöflichen Thron, Hieronymus Graf Colloredo, hatte bei seinen Untertanen - und nicht nur bei Mozart, den er durch den Oberstküchenmeister mittels Fußtritt vor die Tür setzte - keinen schmeichelhaften Ruf. "Unser Fürst Colloredo", dichtete der Volksmund, "hat weder Gloria noch Credo."
Hoch anzurechnen ist dem Verfasser die ausführliche Darstellung der düsteren Seiten von Salzburgs Geschichte: der brutalen Judenverfolgung, der Hexenjagd und der Protestantenvertreibung unter Fürsterzbischof Leopold Anton von Firmian, dessen gegenreformatorischer Eifer mit dem päpstlichen Ehrentitel "Excelsus" belohnt wurde. Eine nachgeborene Gräfin Firmian sollte anno 1881 den Gesamtertrag ihres Vermögens testamentarisch evangelischen Waisenkindern vermachen, um dadurch einen "Teil der Schuld" abzutragen, den ihre Familie einst auf sich geladen hatte.
Ritschel ist ein kundiger Spaziergänger durch die Salzburger Stadtviertel und Zeiten, von den keltisch-römischen Ursprüngen bis in die Gegenwart. Als Zeugen für den ästhetischen Rang der Salzach-Metropole werden hin und wieder Dichter von Trakl abwärts zitiert, worunter sich - 's war dort mal so Sitte - manch brauner Hymniker befindet. Der Name eines Schriftstellers fehlt jedoch, obwohl er Salzburg das bekannteste literarische Denkmal der jüngeren Vergangenheit gesetzt hat: Thomas Bernhard. Schade, die Kunst des Kontrapunkts belebt jede Darstellung. ULRICH WEINZIERL
Karl Heinz Ritschel: "Salzburg". Anmut und Macht. Verlag Anton Pustet, Salzburg, München 1995. 480 S., Farbtafeln, geb., 51,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main