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Sarah Jansen rekonstruiert die Herstellung eines wissenschaftlichen Gegenstandes und die damit verbundenen Institutionen und Praktiken. Am historischen Fall der angewandten Entomologie, der Wissenschaft von der Bekämpfung »schädlicher« Insekten, entwickelt sie eine Theorie und Methodik, womit der »Schädling« als Wirkung und nicht als Ursache der »Schädlingsbekämpfung« analysiert wird. Darüber hinaus zeigt die Autorin eindrücklich, wie ein biologisches Fach eigenen politischen Einfluß gewann, indem es sich mit gesellschaftlichen Bedeutungsfeldern wie »Reinheit«, »Degeneration«, »Rasse« und…mehr

Produktbeschreibung
Sarah Jansen rekonstruiert die Herstellung eines wissenschaftlichen Gegenstandes und die damit verbundenen Institutionen und Praktiken. Am historischen Fall der angewandten Entomologie, der Wissenschaft von der Bekämpfung »schädlicher« Insekten, entwickelt sie eine Theorie und Methodik, womit der »Schädling« als Wirkung und nicht als Ursache der »Schädlingsbekämpfung« analysiert wird. Darüber hinaus zeigt die Autorin eindrücklich, wie ein biologisches Fach eigenen politischen Einfluß gewann, indem es sich mit gesellschaftlichen Bedeutungsfeldern wie »Reinheit«, »Degeneration«, »Rasse« und »Vernichtung« in Beziehung setzte und Praktiken der chemischen Kriegsführung integrierte. Damit trägt das Buch zu zwei aktuellen Diskussionen bei: zur historisch-epistemologischen Analyse von Naturwissenschaften und zur Analyse der Voraussetzungen für den Holocaust.Unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 2003
Autorenporträt
Dr. Sarah Jansen ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung

Schädling, Karriere eines Begriffs

"Maikäfer, flieg! Dein Vater ist im Krieg, deine Mutter ist in Pommerland, Pommerland ist abgebrannt. Maikäfer flieg!" lautet ein altes Kinderlied, dessen Sinn heute kaum noch jemand versteht. Daß der Maikäfer auch zur Plage werden und man ihm sogar den "Krieg erklären" konnte, erfährt man aus einer methodisch anspruchsvollen und dennoch sehr lesbaren wissenschaftsgeschichtlichen Studie, die sich mit der Geschichte der Schädlingsbekämpfung befaßt (Sarah Jansen: ",Schädlinge'". Geschichte eines wissenschaftlichen und politischen Konstrukts 1840-1920. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2003. 434 S., br., 45,- [Euro]). Mit Staunen liest man dort, daß ein Forstmeister um 1910 zum "Feldzug" gegen diesen angeblichen Schädling aufforderte. Ein "Kriegsfonds" sollte eingerichtet, "Kampfflächen" sollten markiert und die gefangenen Käfer schließlich zur "Mordstätte" gebracht werden. Die martialische Ausdrucksweise ist nicht nur dem Zeitgeist geschuldet, sie hat etwas mit einer veränderten Sichtweise zu tun, die sich in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts abzuzeichnen beginnt: Aus dem "schädlichen Insekt" wird nun der "Schädling".

1880 taucht das neue Wort erstmals auf, und zwar in einer Schrift über Rebenschädlinge. Es fällt auf, daß der Kollektivbegriff "Schädlinge" gerade zu einer Zeit in den wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs eingeführt wird, als aus dem Ausland eingeschleppte Insekten, die Reblaus etwa oder die Mehlmotte, großen Schaden anrichteten und gleichzeitig die Darwinsche Evolutionslehre auch in Deutschland verstärkt Fuß faßte. Ähnlich wie die Bakterien wurden die Insekten im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert zu einem Massensymbol, und zwar vor dem Hintergrund eines rasanten Anwachsens städtischer Ballungsräume und der damit einhergehenden Ängste vor der Zersetzung und Auflösung des einzelnen. Insbesondere in der Forstwissenschaft entwarf der Entomologe Karl Escherich (1871 bis 1951) "ein neo-malthusianisches Schreckensbild eines von Insekten-,Massen' bedrohten deutschen Waldes", notiert Sarah Jansen. Derselbe Wissenschaftler initiierte 1913 die Gründung der Deutschen Gesellschaft für angewandte Entomologie, die sich eine umfassende Schädlingsbekämpfung mit modernsten Mitteln zum Ziel gesetzt hatte. Dazu wurden auch neue Beobachtungs- und Beschreibungsmethoden eingeführt - statistische Erfassung, Mathematisierung, Experimente. Der Biologe Albrecht Hase (1882 bis 1962), ein späterer Mitarbeiter des Nobelpreisträgers Fritz Haber (1868 bis 1934), war einer der ersten, der Läuse unterschiedlichen Chemikalien aussetzte, die unterschiedlichen Einwirkzeiten notierte und den Erfolg in einer Matrix-Tabelle festhielt.

Zunächst gerieten nicht von ungefähr "fremde" Insekten wie die Reblaus ins Visier der Experten für landwirtschaftliche Insektenbekämpfung. Die Bedrohung kam aus Amerika über Frankreich, den "Erzfeind". Die an Intensität rasch zunehmende Kampagne zur Bekämpfung der Reblaus, die in Deutschland seit 1870 zu beobachten ist, hatte stark nationalistische Untertöne, galt es doch, die deutsche Weinkultur vor den fremden Schädlingen zu schützen. So wurden sämtliche Weinberge entlang der politischen Grenze mit Frankreich zerstört und auf diese Weise eine Art Schutzzone, ähnlich einem cordon sanitaire wie zur Zeit der Cholera, errichtet, weil man die französischen Desinfektionsmaßnahmen für nicht ausreichend hielt. Die als massiv und existentiell empfundene Bedrohung durch die Reblaus trug, so Jansen, entscheidend zum Begriffswandel vom "schädlichen Insekt" zum "Schädling" bei.

Ein "Fremdling" war ebenfalls der Kartoffelkäfer, der ursprünglich aus Amerika stammt und im Kaiserreich auch zu einer Bedrohung für die deutsche Landwirtschaft wurde. 1875, als man im Deutschen Reich ein Importverbot für amerikanische Kartoffeln erließ, forderte ein Plakat auf: "Achtet auf Kartoffelkäfer". Wachsamkeit war in der Tat geboten, denn kurz darauf wurden die ersten Exemplare dieses Schädlings in Mülheim bei Köln entdeckt. Die ältere Generation dürfte sich noch gut daran erinnern, wie nach dem Zweiten Weltkrieg ganze Schulklassen zum Einsammeln von Kartoffelkäfern auf die Felder geschickt wurden.

Der Erste Weltkrieg gab der Schädlingsbekämpfung einen großen Schub, nicht nur weil Ernteausfälle durch Insektenbefall die Ernährungssituation noch weiter verschlechterten. Der Einsatz von Giftgas auf den Schlachtfeldern brachte Entomologen auf den naheliegenden Gedanken, massenhaft auftretenden Schädlingen im Tierreich ebenfalls mit chemischen Kampfstoffen zu Leibe zu rücken. Bereits 1914 experimentierte man mit Blausäurebegasung von Obstbäumen im "Zeltverfahren". 1922 kam erstmals das "Zyklon B" in der Schädlingsbekämpfung zum Einsatz. Dennoch besteht, wie Jansen überzeugend darlegt, kein kausaler Zusammenhang zwischen der Bekämpfung von schädlichen Insekten durch hochgiftige Pflanzenschutzmittel und der "Ausmerzung" von sogenannten "Volksschädlingen" durch dasselbe Insektizid in nationalsozialistischen Vernichtungslagern. Daß die Theorie vom "Schädling" und die im Tierreich erprobten Bekämpfungsmethoden aber zu den "Ermöglichungsbedingungen" des Massenmordes an Millionen von Juden gehört, daran allerdings kann nach Meinung der Verfasserin kein Zweifel bestehen.

ROBERT JÜTTE

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Mit Staunen" hat Robert Jütte dieser, wie er lobt "methodisch anspruchsvollen und dennoch sehr lesbaren wissenschaftsgeschichtlichen Studie" zur Geschichte der Schädlingsbekämpfung entnommen, wie deutlich der entsprechende Diskurs schon um 1910 von Kriegsmetaphern bestimmt wurde. Überzeugt hat den Rezensenten außerdem, wie die Autorin darlegt, dass es zwar keinen kausalen Zusammenhang zwischen der Bekämpfung von schädlichen Insekten durch Zyklon B und der späteren "Ausmerzung" von Volksschädlingen" durch dasselbe Insektizid in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern gebe, dass diese Praktiken, wie auch der Diskurs über "Schädlinge", aber dennoch zu den "Ermöglichungsbedingungen" des Massenmordes an Millionen Juden gehöre. Daneben referiert der Rezensent, dass Jansen in ihrem Buch etwa zeigt, welche Verbindung die Vorstellung von "fremden" Insekten in Deutschland seit 1870 mit nationalen Ressentiments einging, vor allem angesichts der befürchteten Bedrohung der "deutschen Weinkultur" durch vom "Erzfeind" Frankreich herüberkommende Rebläuse; oder wie der Einsatz von Giftgas im Ersten Weltkrieg manchen Entomologen erst auf den Gedanken brachte, auch Insekten mit chemischen Kampfstoffen auf den Leib zu rücken.

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