Ein heißer Sommertag. Zeit für eine Siesta im Garten. Alles schläft. Die Eltern, das Haus, die Wiese, die Obstbäume. Nur Sven nicht und die Schatten nicht. Sven beschließt, eine kleine Runde durch die Stadt zu machen (oder ..in der Stadt zu drehen). Er geht hinunter zum Hafen, beobachtet einen riesigen Hund und eine Katze, einen Mann und eine Frau. Dann geht er zu seinem Lieblingsplatz am Leuchtturm. Und er besucht den Zoo.
Schwarz auf bunt: Artems großartiges Bilderbuch
Der Schatten ist ein unzuverlässiger Patron, das wissen wir spätestens seit der Romantik. Wie viele haben ihn nicht schon ausbüxsen lassen oder dabei beobachtet, wie er hinter unserem Rücken seine Sperenzchen macht, uns verrät und verspottet. Und doch können wir von ihm als unserer dunklen Seite nicht lassen. Wer ohne Schatten daherkommt, dem fehlt etwas zum Menschen. Oder zum Vogel. Oder zum Hund. Oder zum Hirsch.
Nur was? Heinz Janisch weiß es auch nicht, aber der österreichische Kinderbuchautor weiß, was man mit Schatten alles machen kann. Darum hat er eine Geschichte geschrieben, die zwar "Schatten" heißt, aber kaum etwas von ihnen erzählt: Sie bewegen sich, man lacht oder stolpert über sie, bestaunt sie und nimmt einen mit nach Hause. Der Rest der Geschichte, auch das kaum zwei Dutzend Sätze, erzählt vom kleinen Sven, der an einem heißen Sommertag durch seine Stadt läuft.
Was kann man mit diesem Schatten einer Geschichte machen? Artem Kostyukevich malt es uns aus. Mit neun anderen Zeichnern hatte er sich der Aufgabe gestellt, die Vorlage zu bebildern. Da es aber nicht viel hinzuzeichnen gab, musste er selbst weitererzählen: in seinen Bildern, und zwar all das, was Janisch ausgelassen hatte. Und als Artem, wie Kostyukevich sich als Illustrator nennt, fertig war, gab es plötzlich eine andere Geschichte. Nun ist das Buch erschienen, als Preisträger des Bajazzo-Bilderbuchwettbewerbs. Den hat die Hamburger Hochschule für Angewandte Wissenschaft (wo Artem studiert) gemeinsam mit dem Zürcher Bajazzo Verlag ausgeschrieben: An zehn Teilnehmer des Studiengangs Jugendbuchillustration wird ein Text ausgegeben, den es zu bebildern gilt. Das Glück wollte es, dass gleich die erste Vorlage den Studenten alle Freiheiten ließ - und das Pech will es, dass wir nur die siegreiche Arbeit betrachten dürfen.
Artem ist auf die wunderbare Idee gekommen, die Schatten jenes heißen halben Sommertags, den Janisch zum Rahmen seiner Geschichte wählt, ganz anders zu zeichnen, als man es erwarten durfte. Die Schatten wechseln ihre Besitzer; die kleine Katze bekommt den des großen Hundes, die Löwen im Zoo tauschen mit dem Elefanten und der Giraffe, und sogar den eigenen riesigen Schatten vom Ende hat Sven aus dem Tierpark mitgebracht.
Doch das wäre als Effekt zu wenig, um aus zwei Dutzend Sätzen ein tolles Bilderbuch zu machen. Darum hat Artem die Schatten noch für ganz andere Aufgaben bestimmt: Die dunklen Gestalten sind Hellseher, denn schon im allerersten Bild von Sven wirft er jenen - hier allerdings noch recht kleinen - Schatten, den er am Ende so riesig von seiner großen Wanderung durch die Stadt mitbringen wird. "Er wundert sich über die Schatten im Garten", schreibt Janisch dazu, und diese Verwunderung von Sven kann man verstehen: Woher kommt der Zylinder, woher der zum Mund gewinkelte Arm des Schattens? Das Zauberhafte dieser Bilder ist, dass sie keine Illusionen in den Schattenbildern erkennen lassen, sondern Träume. Da werden die Schatten von Svens dösenden Eltern zu Fußballspielern. der schlafende alte Mann auf der Bank erhebt sich in die Luft und flattert einer Taube hinterher. Ein radfahrendes Mädchen wirft den Schatten eines Doppeldeckerflugzeugs, ein Leuchtturm den einer Achterbahn.
Wie das geht? Nur auf dem Papier, das für jeden Lauf der Phantasie genügend Platz bietet. Artem nutzt ihn, um die Geschichte umzudeuten. Janisch wollte durch die Perspektivverzerrung der Schatten im Tagesverlauf skurrile Bilder erzielt sehen, Artem machte dann etwas anderes: Er illustrierte die Vorlage gegen den Strich und gab damit der Erzählung surrealistischen Charme. Wenn Mut und Können eine solch enge Partnerschaft eingehen, dann kommt eben nicht nur ein Preisträger dabei heraus, sondern auch ein schönes Bilderbuch.
ANDREAS PLATTHAUS
Heinz Janisch: "Schatten". Mit Bildern von Artem. Bajazzo Verlag, Zürich 2007. 28 S., geb., 13,90 [Euro]. Ab 6 J.
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Ein anregendes Buch über ein Phänomen, dem nur schwer auf die Schliche zu kommen ist, konzediert Karl-Heinz Behr. Das merkt auch Sven, der mutterseelenallein in der Sonne eine kleine Runde dreht: An dem träumenden Mann auf der Bank bemerkt er zunächst den Schatten eines Vogels, obwohl der Vogel längst auf und davon ist, mit dem Schatten des Mannes. Und so geht es weiter, kein Schatten will auf seinen Körper passen: Der große Hundeschatten nicht auf den kleinen, der Katzenschatten nicht zum Hundeschatten, der Leuchtturm nicht auf die Achterbahn und die Giraffe nicht auf den Elefanten. Am Ende des Spaziergangs ist die Ordnung der Schatten wieder hergestellt. Von wem die geheimnisvollen Spiele ausgegangen sind, wird aber nicht verraten. Das ist auch nicht weiter zu bedauern, findet der Rezensent, so oder so gehe es hier um die "Entdeckerfreude der Kinder und der Vorleser" und diese sei allemal gegeben, wozu man den Autor des poetischen Textes und Artem, den Illustrator der expressiv mäandernden Bilder nur beglückwünschen kann. Entstanden sei das schöne Buch übrigens im Rahmen einer Ausschreibung der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg.
© Perlentaucher Medien GmbH
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