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Agnons letzter großer Roman führt ins Jerusalem der dreißiger Jahre: Manfred Herbst, Professor für byzantinische Geschichte an der Hebräischen Universität, ist von sich, seiner Arbeit, der engen Welt seiner Kollegen, vom Leben mit seiner unendlich verständnisvollen Frau Henrietta gelangweilt. Als seine Frau ihr drittes Kind zur Welt bringt, begegnet Herbst der Krankenschwester Schira. "Schira" bedeutet auf hebräisch zugleich "Dichtung", und Herbst setzt Schira gegen die Prosa seiner Verhältnisse. In endlosen Streifzügen durch das nächtliche Jerusalem sucht er nach der jungen Frau. Dieses Buch…mehr

Produktbeschreibung
Agnons letzter großer Roman führt ins Jerusalem der dreißiger Jahre: Manfred Herbst, Professor für byzantinische Geschichte an der Hebräischen Universität, ist von sich, seiner Arbeit, der engen Welt seiner Kollegen, vom Leben mit seiner unendlich verständnisvollen Frau Henrietta gelangweilt. Als seine Frau ihr drittes Kind zur Welt bringt, begegnet Herbst der Krankenschwester Schira. "Schira" bedeutet auf hebräisch zugleich "Dichtung", und Herbst setzt Schira gegen die Prosa seiner Verhältnisse. In endlosen Streifzügen durch das nächtliche Jerusalem sucht er nach der jungen Frau. Dieses Buch dokumentiert zugleich eine aus den Fugen geratene Welt: 1936 kommt es in Jerusalem und im damaligen Palästina zu arabisch-jüdischen Unruhen, eine von Herbsts erwachsenen Töchtern schließt sich einem Grenzkibbuz an, die andere einer kämpfenden Untergrundbewegung. Und aus Herbsts Heimat Deutschland dringen Nachrichten von dort verbliebenen Angehörigen, die schon auf die Vernichtung der europäischen Juden deuten. Herbsts quälende Träume spiegeln die Geschichte seiner unerfüllten Liebe ebenso wie die Zeitumstände.
Autorenporträt
Samuel Joseph Agnon, geboren 1888 in Galizien, gehört zu den wichtigsten hebräischen Prosaschriftstellern des 20. Jahrhunderts. Seine besondere Erzähltechnik und seine eigentümliche Sprache wurden oft mit Thomas Mann und Franz Kafka verglichen. Samuel J. Agnon erhielt 1954 und 1958 den Israel-Preis für Literatur und wurde 1966, zusammen mit Nelly Sachs, mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Er starb 1970 in Jerusalem.

Tuvia Rübner wurde 1924 in Preßburg (Bratislava) geboren. Seine Muttersprache ist Deutsch, Slowakisch lernte er privat. 1938 Ausschluß vom Schulunterricht wegen seiner jüdischen Herkunft. 1941 gelangte er als einziger seiner Familie mit dem letzten Flüchtlingstransport aus der Tschechoslowakei nach Palästina. Schrieb zunächst deutsch, seit 1950 hebräisch, seit einigen Jahren wieder deutsch.
Im Jahr 2012 wurde ihm der Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung verliehen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.11.1998

Die Kreise des Beamten
Verhüllter Untergang: S. J. Agnons unvollendeter Roman "Schira"

Wie alle Klassiker der Literatur steht auch S. J. Agnon (1888 bis 1970) auf einer Grenze. Im Werk des israelischen Nobelpreisträgers verknüpfen sich eine unwiederbringliche Vergangenheit und eine noch nicht heraufgekommene Zukunft, versammeln sich Gestalten, wie es sie nicht mehr gibt und vielleicht nie gab: Figuren eines Übergangs, in denen das Unfaßbare einen Ausdruck sucht.

Es ist die Sprache Agnons, die diesen Übergang festhält, ein altes und dennoch nicht veraltendes, merkwürdig geschmeidiges Hebräisch. Der zweisprachige, nach dem Weltkrieg aus der Tschechoslowakei in Israel eingewanderte Lyriker Tuvia Rübner bringt es in ein wunderbares Deutsch. "In der einbrechenden Dämmerung", so beginnt der Roman in seiner Übersetzung, "brachte Manfred Herbst seine Frau Henriette ins Krankenhaus. Kurz darauf ließen sich Schritte vernehmen, und der Beamte, er hieß Achselrad, trat ein und sprach über die Schulter hinweg mit dem Hausdiener oder mit der Putzfrau oder mit beiden zugleich." Die Bewegung ist kreisförmig, schon der Name des Beamten Achselrad deutet es an: Während er vorwärts schreitet, dreht er seinen Kopf und spricht nach hinten, ohne daß wir sehen, an wen er sich wendet.

Der Leser des hebräischen Originals muß Deutsch verstehen, um die im Namen des Beamten schwingende Bedeutung zu erfassen. Das ist bei vielen Menschen dieses Romans so. In den späten vierziger Jahren ist er entstanden, im Schatten der Schoa schreibt Agnon über die aus Deutschland eingewanderten Juden im Palästina der dreißiger Jahre, nennt sie Taglicht und Weltfremd und Neu. Auch Manfred Herbst gehört zu ihnen, und in seinem Namen deutet sich die Welt an, von der hier erzählt wird: Er ist die Hauptfigur des Romans, und er steht im Herbst seines Lebens.

Die Eröffnung des Romans erscheint noch im Zeichen eines Beginns. Die beiden Töchter des Ehepaars sind schon erwachsen, haben das Haus verlassen, und Herbsts Frau kommt noch einmal nieder, bringt eine dritte Tochter zur Welt. Aber der Schein trügt. Ihre Tochter des Alters weist nicht auf die Fruchtbarkeit des Hauses Herbst hin, sondern im Gegenteil: In der Nacht der Geburt verliebt ihr Mann sich in die Krankenschwester Schira, und er geht einer tiefen Krise und schließlich sogar der Auflösung seiner Identität entgegen.

Herbst ist Dozent an der Hebräischen Universität in Jerusalem, sein Fachgebiet die byzantinische Geschichte. Eine tiefe Ironie liegt über seinen Studien. Der jüdische Einwanderer aus Berlin, wo Adolf Hitler herrscht, war ehemals ein hoffnungsvolles Mitglied des deutschen Bildungsbürgertums. Er erforscht eine Vergangenheit, über die in vielfachen Wellen die Zeit hinwegging: Aus Palästina, das die Engländer im Ersten Weltkrieg von den Türken eroberten, zieht es ihn nach Konstantinopel zurück, nach Ostrom, das die Türken einst zerstörten; während seine alternde Frau ihm noch einmal einen Säugling ins Haus bringt, möchte er erkunden, wie man in Byzanz die Armen zu begraben pflegte.

Herbst verliebt sich in die Krankenschwester, weil seine Ehe in die Krise geraten ist. "In diesen Tagen war sie alt geworden", heißt es über seine Frau. "Ihr Gesicht hatte sich mit Falten überzogen, nach Art der Blondinen im Land Israel, die frühzeitig altern. Mehr als das Klima waren die Sorgen daran schuld. Ihre Verwandten in Deutschland waren in großer Not, und Henriettes ganzes Sinnen und Trachten war auf sie gerichtet, wie sie von dort heraus und ins Land Israel zu bringen wären." In der Krise des Ehepaars Herbst spiegelt sich nicht nur ein privates, sondern ein kollektives Schicksal. Im Niedergang des deutsch-jüdischen Intellektuellen an der Hebräischen Universität vor dem Zweiten Weltkrieg stellt Agnon das allgemeine Unglück dar.

Der Name der Krankenschwester, Schira, gibt dem Roman seinen Titel. Das hebräische Wort bedeutet Dichtung oder Gesang, und auch hier täuscht uns Agnons Ironie. Sein Werk ist von der Tragik des Judentums gezeichnet, und Schira kann nicht zu Herbsts Muse werden und ihn erlösen. Sie ist in Polen aufgewachsen, in der Not des Ostjudentums, und auch diese Traumgestalt eines Gelehrten ist in Wirklichkeit das Opfer einer elenden Unterdrückung. Als Herbsts wissenschaftliche Arbeit ins Stocken gerät, versucht er statt einer historischen Studie eine Tragödie zu schreiben, aber er scheitert. Die einzige Tragödie, deren Zeuge wir werden, ist der Leidensweg, den Agnon ihn gehen läßt.

Es ist ein Weg, der unvollendet bleibt wie der Roman selbst. Er ist posthum erschienen, erst 1971, im Jahr nach dem Tod des Dichters. Diese Tatsache hat manchen Leser dazu verleitet, "Schira" als Spätwerk zu verstehen, das ist er jedoch nicht. Drei seiner vier Teile waren schon in den späten vierziger Jahren abgeschlossen und wurden damals teilweise als Vorabdruck veröffentlicht. In Schwierigkeiten geriet Agnon erst am Ende der Erzählung. Es gelang ihm nicht, für Manfred Herbsts unglückliche Liebesgeschichte einen überzeugenden Schluß zu finden, und der vierte Teil kam über ein Fragment nicht hinaus.

In einer Fassung verliert sich Schira spurlos aus Herbsts Leben, und als er 1971 erstmals gedruckt wurde, endete der Roman mit den Worten: "Ich kehre zu Manfred Herbst und der Schwester Schira zurück. Manfred Herbst führe ich vor, die Schwester Schira führe ich nicht vor, ihre Spuren verschwanden, und niemand weiß, wo sie ist." Im Nachlaß fand sich ein Text, den Agnon als "Letztes Kapitel" bezeichnete, und Tuvia Rübner tat gut daran, mit ihm seine Übersetzung zu beenden. Dort wird erzählt, daß Schira von einem tödlichen Aussatz befallen ist und Herbst zu ihr ins Krankenheim kommt. Er durchbricht das Tabu, das sie voneinander trennt, berührt sie und geht mit ihr in den Tod.

Dieses Schwanken zwischen Eros und Thanatos bewog Agnon dazu, eines seiner größten Werke in der Schublade liegenzulassen. Es bezeichnet eine tiefe Ambivalenz in seiner Kunst. Wie Schalom Alejchem und Bashevis Singer (und die Krankenschwester Schira) stammt auch er ursprünglich aus dem osteuropäischen Raum. Aber er schreibt nicht mehr auf jiddisch, sondern auf hebräisch, nicht mehr in der Sprache der jüdischen Vergangenheit, sondern in der Sprache der jüdischen Zukunft. Er schreibt in Israel, dem jungen Staat der Juden, und deshalb, vielleicht, nimmt er den Humor Schalom Alejchems und Singers in eine leise Ironie zurück. Ihr Humor ist ja immer auch ein Galgenhumor gewesen, und Agnons altes, geschmeidiges Hebräisch verhüllt einen Untergang, von dem er nicht erzählen will. JAKOB HESSING

S. J. Agnon: "Schira". Roman. Aus dem Hebräischen übersetzt von Tuvia Rübner. Jüdischer Verlag, Frankfurt am Main 1998. 774 S., geb., 68,- DM.

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