Southern Street thematisiert eindrücklich die gewaltigen städtebaulichen Veränderungen in Manchester, der Geburtsstadt der industriellen Revolution, in ganz spezifischer Weise. Die verlassenen und verbarrikadierten viktorianischen Terrassenhäuser wurden zum Abriss freigegeben und verschwanden. Einst symbolisierten sie, die erst im Laufe der Jahrzehnte einen individuellen Charakter bekamen, den radikalen Wandel einer festgefügten Lebenskultur der englischen Working Class. Zum Schluss waren sie nur noch eine Metapher für eine umfassende gesellschaftliche Transformation zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Die Straße ist nun dem Erdboden gleichgemacht. Die Serie Southern Street dokumentiert aber nicht nur Vergangenes, sondern inszeniert dank ihrer konzentrierten Bildsprache den konkreten Ort und dessen zugrunde liegende Identität und provoziert damit unmittelbare Reaktionen.
Zu einer Zeit, als bei serieller Fotografie kaum ein Mensch an das Ehepaar Becher dachte und als es deren Fotoklasse in Düsseldorf noch gar nicht gab, brachte Ed Ruscha in Amerika ein Leporello heraus, auf dem laut Titel jedes Haus entlang des Sunset Strip abgebildet war. Seite für Seite blätterte man sich durch Los Angeles oder zog, wenn der Platz es erlaubte, das meterbreite Bild auf zu einer Gesamtansicht der Straße. Das war Pop Art vom Schönsten und zugleich strengste Konzeptkunst, mit der man später den Beginn einer neuen Dokumentarfotografie datierte, der "New Topographics". Irgendwie kam bei Ed Ruscha alles zusammen. Und Hollywoods Ruf hat dem Buch sicher auch nicht geschadet - obwohl sich zwischen all den Wohnblocks, Tankstellen und Restaurants kaum Spuren des Glamourösen fanden.
"Every Building on Southern Street" mag nun als Arbeitstitel den Fotografen Stefan Boness begleitet haben, als er für ein ganz ähnliches Projekt durch Salford zog, einen Ortsteil von Manchester. Hausnummer für Hausnummer nahm er dort die Fassaden der viktorianischen Reihenhäuser einer Arbeitersiedlung auf: die immer gleiche Anordnung von Tür und Fenster, Fenster und Tür - wobei die einst identischen Häuser durch einen je eigenen Anstrich der Backsteinwände nun wie Individuen wirken. Nach Glamour hält man auch hier vergebens Ausschau. Im Gegenteil: Es liegt ein Moment von Melancholie über der seltsam berührenden Bildreihe. Denn die Southern Street wurde in ihrer Gesamtheit aufgelöst, um Platz zu machen für eine neue Bebauung. Die Fenster der Häuser sind bereits mit Blechen versperrt, vor den Türen stehen Bauzäune. Das Abrisskommando rollt gleich an. Was bei Ruscha zur berauschenden Autofahrt wurde, wird bei Boness zu einem traurigen Spaziergang des Abschieds. Entstanden aber ist ein bezauberndes Buch, in dem sich strenger Dokumentarismus und die Poesie der Farbfeldmalerei vereinen, um der Veränderung einer Gesellschaft ein Bild zu geben. Irgendwie kommt auch bei Stefan Boness alles zusammen. (F.L.)
"Southern Street" von Stefan Boness. Jovis Verlag, Berlin 2010. 48 Seiten, 33 Abbildungen. Gebunden, 24 Euro.
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