Produktdetails
  • Verlag: Ammann
  • ISBN-13: 9783250600473
  • ISBN-10: 3250600474
  • Artikelnr.: 22812809
  • Herstellerkennzeichnung
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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.11.2007

Im Gasthaus zum zwiefachen Robert
Abhörtechniken für Geisterrede: Ismail Kadare fischt im Drüben / Von Lorenz Jäger

Von allen Romanen über kommunistische Systeme, über Staatssicherheitswahn, Verrat und Loyalität ist dieser wohl einer der überraschendsten. Denn Ismail Kadare, der international hochgeachtete albanische Erzähler, hat seinen Stoff ins Phantastische überhöht. Während die Staatssicherheit abhört, begibt sich eine kleine Gruppe abseits der Gesetze ihrerseits auf Horchposten: zu spiritistischen Sitzungen. Sie wollen die Ängste balancieren. Gegen die Angst vor dem ultrastalinistischen Staat hilft, so glauben sie, die andere, die urtümliche. "Deshalb, sagte er, versucht der Staat eine Rückkehr der alten Angst zu verhindern. Was glaubst du, warum sie auf jeder Versammlung brüllen: ,Nieder mit dem Mystizismus, Tod der Dekadenz'." Aber die beiden Systeme, das politische und das im Geisterreich, entsprechen einander; am Ende treffen sie sich.

Eine mittlere Stadt im Albanien der späten siebziger Jahre ist der Schauplatz. Genauer gesagt, muss es vor 1978 gewesen sein, noch vor dem Bruch des bizarren Herrschers Enver Hodscha mit seinen chinesischen Protektoren, die sich nach Maos Tod an eine realistische Außenpolitik hielten. Noch erhält die Staatssicherheit Sigurimi ihre modernsten Abhörgeräte - die "Prinzessinnen" - von der Volksrepublik China. Und eine der schönen Pianissimo-Ironien, an denen das Buch reich ist, beschreibt die Mühen, die es kostet, die unmittelbar an Ort und Stelle arbeitenden Spitzel angesichts der neuen Technik nicht zu demotivieren.

Arian Vogli, Sicherheitschef der Stadt, muss ihnen sehr gut zureden: "Dass nämlich ihre getreuen, blutwarmen Ohren unvergleichlich viel wertvoller waren als die leblosen Wanzen, über die er sich verächtlich, fast feindselig äußerte." Bald laufen Berichte der Spitzel ein, in denen die Zentrale über die hasserfüllte Stimmung gegen die modernen Wanzen informiert wird; man sehne sich im Volk geradezu nach den lebenden Zuträgern zurück.

Die Geräte müssen plaziert werden. Seit längerer Zeit plant das Stadttheater eine Aufführung von Tschechows "Möwe", immer wieder hatte man sie untersagt. Der Sicherheitschef erkennt seine Chance. Man erlaubt die Vorstellung, lässt das Haus sogar heizen - gilt also mit einem Mal als "liberal" -, nötigt die Besucher, ihre Mäntel an der Garderobe abzugeben, und näht die "Prinzessinnen" geschickt ein.

Es sind wenige Personen, denen wir in diesem Roman begegnen: Vogli von der Sicherheit, dessen Studentenliebe Edlira, die einen anderen geheiratet hat - jetzt lässt er ihr Bett abhören. Dann Shpend Guraziu, ein Ingenieur, der einer Delegation des französischen Senats als Begleiter dienen soll, aber von einem Bulldozer überfahren wird, bevor er seine Botschaft ans westliche Ausland - und sei es nur in Form eines Stöhnens - übermitteln kann. Seine Geliebte ist die Hauptdarstellerin der "Möwe". Die Staatssicherheit hat ein Abhörband, auf dem Gurazius Stimme aus dem Jenseits erklingt.

Auslöser der verstärkten Überwachung war die Äußerung eines Krankenhauspatienten, ein albanisches Sprichwort: "Geblendet ist der Rabe noch schwärzer." Man vermutet eine staatsfeindliche Anspielung, denn das Augenlicht des Herrschers schwindet, schon sind japanische Ärzte ins Land gekommen, um die Aussichten einer Behandlung zu prüfen. Über diesen nächsten Zweck hinaus aber gehen Vogli noch andere Fische ins Netz; ein katholischer Priester etwa, der illegal getauft hat, wird bald erschossen aufgefunden. Man hat seine Stimme auf Band: "Ich taufe dich auf den Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes!"

Kadare versäumt nicht den Hinweis, dass es sich bei der Taufformel um den ersten in albanischer Sprache niedergeschriebenen Satz handelt, der sich in einem ansonsten auf Lateinisch abgefassten Schreiben des Bischofs von Durrës aus dem fünfzehnten Jahrhundert findet. Überhaupt fängt dieser Roman die Stimmen Albaniens auf, Lieder, Sprichwörter, alles Gesprochene findet ein vielfaches, oft gebrochenes Echo. Kadare gehört zu jenen Schriftstellern, denen die weltliterarische Höhe nur im Medium ihrer nationalen Geschichte erreichbar ist. Wer ihn liest, wird über die große Literatur dieses kleinen Landes - des ewigen Nebenkriegsschauplatzes der Weltgeschichte - nicht mehr lächeln.

Jedes Buch schafft sich seine Vorläufer, es ist nicht von ihnen bedingt, sondern stiftet erst die Tradition. Bei Kadares Roman kann man an den spätantiken Historiker Ammian denken, der schildert, wie kurz vor dem Übergang des Reiches zum Christentum eine eigene Klasse von Zuträgern darauf spezialisiert war, in Träumen staatsfeindliche Zeichen zu entdecken. Oder an den Mythos von Philomela, der man die Zunge herausschneidet - denn auch Vogli, der getreue Horcher, entgeht einem ähnlichen Schicksal nicht.

Kadare spielt mit der Vorstellung eines epischen Stoffes, der sich gleichsam im Zeitraffer verwandelt, sich in Versionen aufteilt, zur Ballade zusammenschnurrt, nein: in zwei, wie beim Mythos üblich. Die Ballade ist die dichterische Form, in der die Toten als Wiedergänger erscheinen können, das ist in Kadares Albanien nicht anders als in Bürgers "Lenore".

Und am Ende, in der Gegenwart, haben die beiden Balladen nur noch in der Werbung der beiden konkurrierenden Reiseunternehmen "Albtourist" und "Shqipëriaturist" ein Unterkommen. "Im Katalog der einen Agentur bezeichnet ein Pfeil das uralte Gasthaus zum Büffelknochen, das erworben und als angeblicher Schauplatz der ,Ergreifung des Geistes' zum Touristenmotel umgebaut worden war. Die andere Firma dagegen präsentierte ihren Kunden ein Feld in Mittelalbanien . . . als die ,Klageebene', wo der Lehm gesprochen oder geschluchzt hatte. Eine . . . mittelalterliche Herberge war gleichfalls aufgekauft, restauriert und wieder mit ihrem alten, von den Kommunisten verbotenen Namen versehen worden: Gasthaus zum zwiefachen Robert." So ist, nach Kadare, Albanien im Westen angekommen.

Ismail Kadare: "Spiritus". Roman. Aus dem Albanischen übersetzt von Joachim Röhm. Ammann Verlag, Zürich 2007. 293 S., geb., 19,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Für Rezensent Andreas Breitenstein gehört der albanische Autor Ismail Kadare zu den wichtigsten Aufklärern über den großen Terror. Auch wenn er im Leben eine gewisse Nähe zum Regime pflegte, Kadares Romane sprechen für Breitenstein eine andere Sprache - und dies bereits zu Zeiten Enver Hoxas. Auch in seinem 1995/96 entstandenen und nun auf Deutsch vorliegenden Roman "Spiritus" setzt Kadare sich mit dem kommunistischen Terror und seinen Folgen auseinander, und das sowohl intellektuell wie literarisch "tiefgreifend", wie der Rezensent betont. Im ersten Teil des Romans reist eine Forschergruppe ins albanische B., um dort nach Opfern der kommunistischen Diktatur zu suchen und Gerüchten über einen Wiedergänger nachzugehen, erzählt Breitenstein. Die Erschütterung, die die Forscher mit ihren Erkundungen auslösen, stürzt die gesamte Bevölkerung von B. in einen "kollektiven Wahn", der die furchtbare Zeit der Diktatur und die damals herrschende Angst wieder ins allgemeine Bewusstsein hebt. Im Mittelpunkt des zweiten Teils des Romans steht der Stasi-Bezirkschef Arian Vögli, der einst auf Geheiß des Diktators alle Einwohner mit Wanzen ausstatten ließ, um regimekritische Äußerungen und Aktionen prompt und grausam verfolgen zu können. Das Buch bietet alles, was einen typischen Kadare-Roman ausmacht, versichert der Rezensent: Es vereine Spannung, die dichte Verarbeitung der jüngsten Geschichte und eine brillante Figurencharakterisierung. So, wie der Autor "Mythos und Moderne" verknüpft, erweist er sich für Breitenstein als grandioser Konstrukteur seines komplexen Stoffes und als einer der wenigen europäischen Autoren, die das Prädikat "phantastischer Realismus" verdienen.

© Perlentaucher Medien GmbH
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