Kaum ein Wort ist heute umstrittener als Empfindsamkeit. Michael Stavarics Langgedicht geht tatsächlich dem nach, was man alles spüren kann. Auf diese Weise entsteht eine durch und durch körperliche Poesie. Doch geht es dabei nicht allein um die Empfindungen eines lyrischen Ichs, das seine Lunge und seine Gelenke spürt, nicht schlafen kann oder einen Goldfisch im Gehirn schwimmen fühlt - sondern um jene der ganzen Welt. Diese leidet wie der menschliche Körper unter Abnützungserscheinungen, von der toxischen Luft über das Insektensterben bis zum postkolonialen Zahnbelag. Stavarics poetisch reflektierte Sprache lässt Nervenbahnen entstehen zwischen dem Körper des Einzelnen und der physisch fassbaren Welt. Dabei sind nicht nur Schmerzen spürbar, sondern auch das Wachsen von Schneeglöckchen, postfaschistische Ampelkreuzungen oder sogar das Papierkorb-Icon am Bildschirm, das alles auszulöschen droht. Michael Stavarics spüren ist ebenso ironisch wie sensibel, eine lyrische Enzyklopädieindividueller und kollektiver Empfindungen, die Einsamkeit und zwischenmenschliche Abneigung ebenso einschließt wie Empathie.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Daniela Strigl hat viel Freude mit diesem Gedichtband Michael Stavaričs. Man kann die Verse genauso gut als ein einziges Langgedicht wie als 41 Einzelgedichte betrachten, jedenfalls beginnen alle 41 - es gibt dann noch eine Art Epilog - mit den Worten "ich spüre". Die Emphase auf das Verb "spüren", das ohnehin die Leib- und Magendisziplin der Dichtkunst ist, verweise bereits darauf, dass bei Stavarič Ironie im Spiel ist. Jedenfalls nähert sich der Autor in seinen fühlenden Versen nicht der urtümlichen, sondern der gemachten Natur: "Ich spüre die Grünstreifen / neben den wummernden Schnellstraßen / die Melancholie der Windschutzgürtel / die Verlorenheit der Feldhamster / die Uneinigkeit der Wiesenkräuter (Gift oder Heilmittel?)" Außerdem fühlt er nicht selten Dinge, die außerhalb der Reichweite des menschlichen Sensoriums liegen, wie etwa "Zeitzonen und Neutronen". Sprachlich ist Stavaričs Lyrik faszinierend variantenreich, freut sich die Rezensentin, mal dichtet er pathetisch, mal kalauerig, Zitate werden eingebaut, Sinn und Unsinn fließen ineinander. Strigl fühlt sich angesichts solch sprachlicher Volten unter anderem an Rolf Dieter Brinkmann erinnert - Stavarič schreibt über den Niedergang der Natur auf äußerst lebendige Weise. Nicht ganz jedes Wortspiel mag in diesen Versen gelingen, lesen wir abschließend, insgesamt jedoch würde Strigl gern noch viel mehr Gedichte von Stavarič lesen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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