In diesem Band werden traditionelle historiographische Fragestellungen mit den Ansätzen jüngerer Forschungsrichtungen verbunden, um in kulturhistorischer Perspektive nach der Realität von Herrschaft vor Ort und der erfahrungsgeschichtlichen Dimension politischer Macht zu fragen. Dabei wird nicht mehr der moderne Staat des 19. Jahrhunderts, dessen Entwicklung gewissermaßen rückblickend analysiert wird, als Ausgangspunkt genommen, sondern die Zeit des Umbruchs traditioneller Herrschaftspraktiken am Beginn der Neuzeit und die Entstehung neuer Herrschaftsstrukturen, die vor dem Hintergrund einer sich wandelnden politischen Kultur legitimiert und vermittelt werden mussten. Die auf West- und Mitteleuropa ausgerichteten Beiträge greifen einzelne Aspekte des politischen Wandels sowie der zentralen und lokalen Herrschaftsausübung auf, etwa die Bedeutung von Rechtssprechung und Justiznutzung, die prägende Kraft der höfischen Kultur oder die Rolle sozialer Eliten im Staatsbildungsprozess, um exemplarisch die Vielschichtigkeit von Herrschaft und Herrschaftslegitimation zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert aufzuzeigen.
Wehe dem, der nicht rechtzeitig merkt, wenn sich die Verhältnisse ändern! Fürsprecher der Krone fürchteten um deren Autorität, als es nach 1620 politische Zeitungen und Pamphlete über London regnete. Die "newsletters", sagten die Anhänger des Königs, verbreiteten weibisches Geschwätz, und ihre Autoren seien "male-female", Mannweiber, die dem Volk mit Lügen den Kopf verdrehten. Indem sie ihre Gegner zu halben Frauen erklärten, versuchten sie, adliger Taktik folgend, diese als Argumentationspartner zu disqualifizieren. Das Problem war nur, daß die politische Publizistik den traditionellen Ehrenkodex aushebelte und ins Leere laufen ließ, wo er als Waffe wirken sollte. Die Verhältnisse, sie waren nicht mehr so.
Wolfgang Reinhard hat in seiner "Geschichte der Staatsgewalt" den staatstragenden Part den Herrschaftsträgern und ihrer Bürokratie zugesprochen: Von der Zentrale aus habe sich der Staat in einer Endlosschlaufe des Schuldenmachens und Geldeintreibens zum Moloch der Moderne aufgebläht. Eine etwas andere Rollenverteilung nimmt nun ein von Ronald Asch und Dagmar Freist herausgegebener Sammelband vor ("Staatsbildung als kultureller Prozeß". Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit. Böhlau Verlag, Köln 2005. 442 S., geb., 54,90 [Euro]). Ihm zufolge ist der moderne Staat durch fortlaufendes "Aushandeln" zwischen Zentrale und Peripherie, Obrigkeit und Untertanen entstanden. Die meisten der sechzehn Beiträge stellen Staatlichkeit nicht als Ergebnis einer beständigen Machtakkumulation dar, sondern als Folge einer Dialektik von Kontrollgewinn und Kontrollverlust. Freists Ausführungen über die politische Publizistik am Vorabend des Englischen Bürgerkriegs sind dafür exemplarisch: Verlieh der Buchdruck den Herrschern ungeahnte Propagandamittel, so den Beherrschten ungeahnte Widerstandskräfte.
In welche Richtung die Dialektik im Einzelfall wies, führen die Autoren auf die jeweilige "politische Kultur" zurück. Die Deutungen dieses Leitbegriffs sind so verschieden wie seine Gegenstände. Trotzdem läßt sich zeigen, was eine kulturhistorische Betrachtung der Staatsbildung zu leisten vermag. Sie kann herkömmliche verfassungs- und wirtschaftsgeschichtliche Ansätze zwar nicht ersetzen, aber korrigieren und erweitern. Reinhard, der den Band mit einem Kommentar abschließt, sieht sich jedenfalls veranlaßt, die Gewichte seiner Theorie leicht zu verschieben.
Mit ihrer eklatanten Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen gibt die Frühe Neuzeit für die Neue Kulturgeschichte seit langem ein ergiebiges Feld ab. Frühe Kulturalisten haben ihren an ethnologischen Methoden geschulten Blick noch auf unübersehbar fremde Themen wie Hexenglauben und öffentliche Gewaltrituale gerichtet. Intellektuell subversiver wurde es, als sie sich auch jenen Themen zuwandten, die mit "Rationalisierung" und "Modernisierung" überschrieben waren. Zuerst war die wissenschaftliche Revolution an der Reihe, nun ist es die Staatsbildung.
Auf der Suche nach rituellen Praktiken, Clanstrukturen und archaischen Wahrnehmungsmustern werden die Autoren rasch fündig. Ronald Asch interpretiert das dynamische Verhältnis zwischen Ludwig XIV. und altem Adel als Tauschgeschäft auf dem Markt der symbolischen Güter; für die Abgabe von Autonomie winkte dem Schwertadel die exklusive Ehre hoher Armeeposten. Stefan Brakensiek geht in süddeutschen Territorien der "spezifischen Rationalität" nach, die nepotistische Strukturen für die obrigkeitliche Kontrolle lokaler Amtsträger besaßen. Claudia Opitz entdeckt, wer in Jean Bodins "Six Livres de la République" den Urfeind jeder Staatsgewalt abgebe und mit List und Tücke Zwietracht und Bürgerkriege säe: die Frau. Und Birgit Emich zeigt am Beispiel von Bologna und Ferrara, die beide im sechzehnten Jahrhundert unter päpstliche Herrschaft geraten, wie städtische Mythen aus ähnlichen Ausgangslagen unterschiedliche politische Kulturen schaffen.
Viele Beiträge untersuchen Staatsbildung auf der lokalen Ebene, als "kommunikativen Akt" zwischen Amtsträgern und Administrierten. So legt André Holenstein überzeugend dar, daß die Zentrale in ihrem Willen, "das lokale Wissen in der Gesellschaft zu erschließen und für ihre politisch-administrativen Ziele verfügbar zu machen", wider Willen unter den Einfluß der Peripherie geraten sei. Ob sich seine Erkenntnisse verallgemeinern lassen, bleibt indes offen, und auch andere Beiträge gelangen mit ihren lokalen Tiefenbohrungen kaum über den Nachweis hinaus, daß ihre minutiös rekonstruierte Ordnung schon im Nachbarort nicht mehr gelte.
Daß ihre Beobachtungen doch noch einen weiteren Horizont gewinnen, verdankt der Band nicht zuletzt Wolfgang Reinhard, der zum Schluß sein Netz ins Datenmeer der Mikrohistorie wirft und mit leichter Hand einen gewichtigen Fang an Land zieht. Interkulturell gesehen, so sein Fazit, sei der kommunikative Charakter von Lokalherrschaft wohl eine Ausnahme, Gehorsam und Zwang aber der Normalfall. In der europäischen Kultur nämlich gelte der Mensch seit jeher als Eigentümer seiner selbst, als Individuum mit Rechten, die dem Zugriff der Obrigkeit grundsätzlich entzogen seien: "Darauf beruht nicht nur ein Habitus der Widerständigkeit, der Europas politische Szene seit alters charakterisiert, sondern eben auch die Notwendigkeit für die Obrigkeiten, sich in vielen Dingen mehr oder weniger gütlich mit ihren Untertanen zu einigen." Inspiriert eine Aufsatzsammlung zu solchen Thesen, darf sie als gelungen gelten.
CASPAR HIRSCHI
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Staatlichkeit als Ergebnis zu sehen "einer Dialektik von Kontrollgewinn und -verlust", wie es die 16 Beiträge des vorliegenden Sammelbandes tun, das leuchtet Caspar Hirschi ein. Die Richtung dieses Wechselspiels, erklärt er, machen die Autoren von der jeweiligen politischen Kultur abhängig. Ob am Beispiel politischer Publizistik kurz vor dem Englischen Bürgerkrieg oder der Kommunkation "zwischen Amtsträgern und Administrierten" auf lokaler Ebene - die Texte, meint Hirschi, zeigten, dass eine kulturhistorische Betrachtung "verfassungs- und wirtschaftsgeschichtliche Ansätze zwar nicht ersetzen, aber korrigieren und erweitern" könne. Dass es einem einzelnen Aufsatz im Band am Ende gelingt, durch den Blick ins "Datenmeer der Mikrohistorie", die Eingangsthese zu relativieren, stört Hirschi dabei nicht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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