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In der Deutung Cassirers kennzeichnen "Substanzbegriff" und "Funktionsbegriff" nicht nur die diesbezüglichen verschiedenen Auffassungen der Philosophen der vergangenen historischen Epochen, sondern zugleich zwei grundverschiedene Möglichkeiten des Philosophierens selbst, die sich unter dem Namender Ontologie und der Erkenntnistheorie bis heute in scharfer Auseinandersetzung gegenüberstehen.

Produktbeschreibung
In der Deutung Cassirers kennzeichnen "Substanzbegriff" und "Funktionsbegriff" nicht nur die diesbezüglichen verschiedenen Auffassungen der Philosophen der vergangenen historischen Epochen, sondern zugleich zwei grundverschiedene Möglichkeiten des Philosophierens selbst, die sich unter dem Namender Ontologie und der Erkenntnistheorie bis heute in scharfer Auseinandersetzung gegenüberstehen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.04.2001

Im Endlichen nach allen Seiten
Wo Hegel dichtmacht, bleiben Fragen offen: Ernst Cassirers Archäologie des europäischen Denkens will Meilensteine auf dem ewigen Weg der Zeit freilegen

Im Jahr 1898 stellte die Königlich-Preußische Akademie der Wissenschaften eine Preisaufgabe zum philosophischen Werk von Leibniz. Gewünscht war eine quellennahe Darstellung des Systems in seiner Entwicklung, geboten wurden fünftausend Mark. Mit dieser Kombination von Geist und Geld waren höchste Erwartungen verbunden, sie trug jedoch nur wenig Früchte. Innerhalb von drei Jahren gingen zwei Arbeiten ein, von denen die eine als nicht preiswürdig verworfen wurde.

Die andere sah sich zahlreichen Einwänden ausgesetzt, die im Sitzungsprotokoll akribisch verzeichnet sind: zu einseitig, zu weitschweifig, zu undeutlich, zu lückenhaft, vor allem aber: zuwenig Leibniz, zuviel Kant. Da man nicht umhinkam, die Arbeit gleichwohl "lehrreich und überzeugend" zu nennen, wurde dem jungen Verfasser, Dr. Ernst Cassirer aus Berlin, kurzentschlossen das Accessit von dreitausend Mark zuerkannt. Den Hauptpreis aber hoffte man, nach erneuter Ausschreibung, in spätestens drei Jahren vergeben zu können, wobei offenbar auch an den bereits absehbaren Personalbedarf der Akademieausgabe von Leibniz' Schriften gedacht war. Tatsächlich wurde das gewaltige Editionsvorhaben dann 1924 begonnen, vollendet ist es bis heute nicht.

Das Leibniz-Buch, das auch die Dissertation über "Descartes' Kritik der mathematischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnis" von 1895 enthält, war Cassirers erste selbständige Publikation. Programmgemäß eröffnet es die auf insgesamt 25 Bände angelegte, seit drei Jahren im Meiner Verlag erscheinende Hamburger Ausgabe der Gesammelten Werke. Die Ausstattung der Ausgabe ist aufwendig und rundum solide. Jeder Band bietet ein Verzeichnis der zitierten Quellen, vervollständigt Zitatangaben - einschließlich der fremdsprachigen Vorlagen - und erleichtert den raschen Zugriff durch ein Namenregister. Nach und nach wird diese Edition die zumeist in zahlreichen Auflagen vertriebenen Einzelausgaben von Cassirers Schriften vollständig ersetzen. Schon im zweiten Band fehlt allerdings das Sachregister und muß einer Notlösung weichen, die nichts anderes darstellt als eine editorische Groteske. Statt die insgesamt vierbändige Schrift über das "Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit" begrifflich umfassend zu erschließen, wie es dieses von der vielbeachteten "Philosophie der symbolischen Formen" zu Unrecht überschattete Opus magnum zweifellos verdient hätte, begnügt sich der jetzt im Rahmen der Hamburger Ausgabe vorgelegte vierte Band mit dem Nachdruck des Namen- und Sachregisters von 1922. Dieses Verzeichnis beschränkt sich auf die beiden ersten Bände und nennt selbstverständlich die alten, in der Neuausgabe ergänzend aufgeführten Seitenzahlen.

Daß die Hamburger Ausgabe auf den Abdruck ergänzender Materialien verzichtet und jenes Sitzungsprotokoll der Preußischen Akademie ebenso beiseite läßt wie die jetzt von Rainer A. Bast im Anhang seiner Habilitationsschrift mitgeteilte Selbstanzeige von Cassirers Leibniz-Buch, wird man ihr nachsehen. Die Haupttexte sind brisant genug, zumal Cassirer auch hier Gelegenheit nimmt, auf die äußeren Umstände und die konzeptionellen Implikationen seiner Arbeit ausführlich einzugehen. Ohne jeden Anflug von Selbstgefälligkeit greift der Siebenundzwanzigjährige jene Kritik der Akademie gleich zu Beginn seiner Leibniz-Schrift auf und nutzt sie zu einer bemerkenswerten Klarstellung. Dabei geht es nicht nur um Leibniz und sein Denken, sondern auch und mehr noch um die Spezifik des philosophiegeschichtlichen Interesses, um die Methode und die leitenden Fragen.

Cassirer ist hier ganz in seinem Element. Entschieden weist er die Vorstellung zurück, Philosophiegeschichte könne als Dogmengeschichte verwirklicht werden, als eine Aneinanderreihung starrer und endgültiger Einzelsätze. Wer seine späteren Arbeiten im Blick hat, kann nur darüber staunen, wie deutlich diese Erläuterungen die Darstellungspraxis des nachfolgenden "Erkenntnisproblems" und der monumentalen "Philosophie der symbolischen Formen" so früh schon vorwegnehmen. Weit davon entfernt, fertige Resultate aufzulisten, will Cassirers Philosophiegeschichtsschreibung an jene Grundschichten herankommen, in denen die philosophischen Motive "im Ganzen der wissenschaftlichen Arbeit" wirksam sind. Nicht vom Zustand stehender Ewigkeiten ist dieser Philosoph fasziniert, sondern von Prozessen, vom Denken in Bewegung. Geistiges Sein enthüllt sich in seiner Aktivität - diesen Leitsatz seiner Forschungsarbeit hätte noch der Verfasser des im amerikanischen Exil entstandenen "Essay on Man" von 1944 mit genau den gleichen Worten aussprechen können.

Daß das Denken sich im Blick auf sein Werden über sich selbst aufkläre, ist ein Gedankenmotiv, bei dem manch einer das Vorbild Hegels assoziieren mag und speziell auch dessen Versuch, Vernunft und Geschichte als Einheit zu fassen. Tatsächlich ist, nachdem das unselige Klischee vom "Neukantianer" die Wahrnehmung Cassirers als selbständigen Kopfs jahrzehntelang blockiert hat, neuerdings vom "Hegelianer" Cassirer zu hören.

Doch Cassirer ist kein Anhänger Hegels gewesen, zu keiner Zeit. Die eben erschienene Arbeit von Rainer A. Bast, die Cassirers Geschichtsverständnis unter den verschiedensten Aspekten beleuchtet, bestätigt den Eindruck einer lebenslangen Distanz, die am Ende in spürbares Befremden umschlug. Wo bei Hegel das System steht und alle Fragen immer schon beantwortet hat, da, so Bast, beharre Cassirer noch einmal auf der offenen Frage nach jenem synthetisierenden Element, das die Epochen und Zeiten, die zusammen den Stoff der Geschichte bilden, als Einheit faßbar und zugleich das einzelne verständlich werden lasse.

Die Düsseldorfer Habilitationsschrift summiert die Erträge der Kärrnerarbeit, die Bast als Herausgeber von Cassirers Aufsätzen und der Descartes-Monographie in den letzten zehn Jahren geleistet hat. Solche Quellenforschung ist jedoch nicht bloß philologisch verdienstvoll. Sie zeigt auch, daß die sterbende Republik mit dem jüdischen Gelehrten Ernst Cassirer, der 1933 das Amt des Rektors der Universität Hamburg unter schmählichen Umständen räumen und das Land verlassen mußte, einen ihrer anregendsten Köpfe verlor. Die bemerkenswert lebhaft geführte Debatte um sein Werk, die sich bereits entwickelt hatte, ist damals zusammen mit der Stimme Cassirers in der deutschen Gelehrtenwelt jäh verstummt.

Die Hamburger Ausgabe ist ein Akt der Wiedergutmachung. Eindrucksvoll führt sie die Prägnanz eines philosophischen Denkens vor Augen, dem Wirkung und Nachleben gewaltsam verwehrt werden sollten. Der nach hundert Jahren jetzt erstmals wiederaufgelegten Leibniz-Schrift läßt sich entnehmen, daß Cassirers Hegel-Abwehr bis in die Tage dieser Monographie zurückreicht, die Hegel nur ein einziges Mal und recht beiläufig erwähnt.

Das gleiche Bild bietet die programmatisch hoch einzuschätzende Studie über "Substanzbegriff und Funktionsbegriff" von 1910. Ausdrücklich wehrt Cassirer im vierten Teil des "Erkenntnisproblems" gleich eingangs den Versuch ab, die Geschichte des Geistes zu hegelianisieren, und in seinem ebenfalls aus den dreißiger Jahren stammenden Goethe-Buch beruft er sich auf George-Louis Buffons "Archäologie" als das letztlich auch für Goethes Naturforschungen beispielgebende Verfahren. Der Archäologe müsse, so zitiert Cassirer zustimmend Buffons "Histoire naturelle" aus der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts, "die Archive der Welt durchstöbern, die Dokumente aus dem Innern der Welt hervorholen, die Trümmer sammeln und dies alles zu einem Ganzen vereinen. Dies ist der einzige Weg, um in der Unendlichkeit des Raumes einige feste Punkte zu bestimmen und um auf dem ewigen Wege der Zeit eine Anzahl von Meilensteinen zu gewinnen."

Von Hegels systembedingter Prämierung des Erfolgs und der Stärke, die manchen seiner Anhänger zur Koketterie mit den dumpfesten Formen des Sozialdarwinismus verführt hat, ist Cassirers Geisteswelt frei. Es ist gerade die Pointe der "Archäologie", ein philosophisches Modell für die Auseinandersetzung mit den Gegenständen der Geschichte anzubieten, ohne damit der Geschichte zugleich die Rolle des souveränen Subjekts und des "Weltgerichts" zuspielen zu müssen. Der vierte Band des "Erkenntnisproblems", der Ende der dreißiger Jahre im Göteborger Exil entstand und erst 1957 auf deutsch erschien, spricht auch hier eine deutliche Sprache. Statt den Leser mit einem Defilee der erkenntnistheoretischen "Ansätze" langweilen oder akademische Schulstreitigkeiten aufwärmen zu wollen, wendet die Studie sich direkt jenen Antriebskräften der Erkenntnis zu, die, wie es heißt, "oft tief verborgen im Inneren der Wissenschaften" ruhen.

Die Familienähnlichkeit mit den archäologischen Projekten Sigmund Freuds und des Cassirer-Lesers Michel Foucault ist unverkennbar, hat allerdings die absehbaren Entgegnungen provoziert. Das "Zentralkonzept der Vernunft", so lautet das Standardbedenken, verliere sich bei Cassirer in einem "ausgedehnten Filigranwerk symbolischer Funktionen". Das ist ganz der Stil einer Orthodoxie, die den leisesten Anflug von Infragestellung durch Androhung der Exkommunikation vorgreifend abwehrt. Als sei die Aufmerksamkeitsverschiebung an sich schon verwerflich, wird deren Pointe schon gar nicht mehr wahrgenommen: Mit der Historisierung der Erkenntnis hoffte Cassirer den Wissenschaften und der Philosophie als gleichberechtigten Teilnehmern ein ideales Forum für das interdisziplinäre Gespräch über die Grundlagen der menschlichen Daseinswelt eröffnen zu können.

Dieser Linie ist Cassirer als Philosophiehistoriker ebenso treu geblieben wie als Kulturphilosoph. Der Abschlußband des "Erkenntnisproblems" vermittelt den Eindruck eines reifen und abgeklärten Denkstils, der sich über die Befangenheiten streng departementalisierter Fachwissenschaften und Schulen ebenso hinwegsetzt wie über die Beschränktheiten des nationalen Blickwinkels. Die ungewöhnliche Weitgespanntheit seines philosophischen Interesses zeigt, daß Cassirer es mehr mit Goethe hielt als mit dem von Hans-Georg Gadamer einmal so genannten "überstandpunktlichen Standpunkt" der Alleinvernunft. In der emphatischen Auslegung des Wortes und mit einer Selbstverständlichkeit, die weit mehr überzeugt als alle wissenschaftspolitische Phraseologie, ist Cassirer ein europäischer Denker gewesen.

"Willst du ins Unendliche schreiten", zitiert Cassirer gelegentlich aus Goethes Spruchsammlung, "geh nur im Endlichen nach allen Seiten." Diesem Vorsatz entschiedener Weltbezogenheit und zarter Empirie ist er auch bei der Auswahl seiner Gewährsleute treu geblieben. Die Namen seiner Zeugen wird man bei einem neukantianischen Erkenntnistheoretiker sowenig erwarten dürfen wie bei einem Geschichtsphilosophen hegelianischer Provenienz: Auguste Comte und Numa-Denis Fustel de Coulanges.

Die gängigen Vorurteile zumal über den "Positivisten" Comte schrecken den Verfasser des "Erkenntnisproblems" nicht ab. Was ihn interessiert, ist das Konzept wissenschaftlicher Erfahrung. Nicht Tatsachen habe Comte ermitteln wollen, versichert Cassirer, sondern Gesetze, die als tragende Elemente eines umfassenden, physische und geistige Welt integrierenden Wissens fungieren sollten. Cassirer beruft sich auf Comte als den letzten Vertreter des genuin philosophischen Anspruchs, die durch das Aufkommen der Einzelwissenschaften verschärfte Diskrepanz zwischen phänomenaler Welterfahrung und systematischem Geist zu überbrücken, und es ist dieser Versuch der Integration des Disparaten, der ihm auch Fustel de Coulanges nahebringt. Historist, der er war, habe Fustel de Coulanges gleichwohl die Herausforderung der Vergangenheitserkenntnis gerade darin gesehen, daß ihre Zeugnisse uns fremd geworden seien: tout à fait étrangers. Was Cassirer "historische Hermeneutik" nennt, ist Arbeit an diesen elementaren Spannungen: eine Arbeit, die auf geologisch ältere Schichten zurückgeht, um "aus ihrer Erforschung neue Einsichten in die Welt der lebenden Organismen zu gewinnen".

Es ist charakteristisch für Cassirers Philosophieren und erschwert seine Wahrnehmung bis heute, daß es von Beginn an und über all die Jahre hinweg den Dialog mit der Geschichte suchte. Eine Ausnahme von dieser Regel bildet die Schrift über "Substanzbegriff und Funktionsbegriff", die den Formen der wissenschaftlichen Begriffsbildung in den verschiedenen Fächern nachspürt. Obwohl er in dieser Schrift nicht ein einziges Mal erwähnt wird, dürfte das Ausgangsproblem durch eine Bemerkung Georg Simmels inspiriert sein. Die "Tragik der menschlichen Begriffsbildung" hatte Simmel darin erkannt, "daß der höhere Begriff der Weite, mit der er eine wachsende Zahl von Einzelheiten umfaßt, mit wachsender Leere an Inhalt bezahlen muß".

Als Beschreibung des Dilemmas nimmt Cassirer den Problembefund an, hält es aber, anders als sein Lehrer Simmel, für überwindbar. Die Begriffs-Schrift möchte zeigen, wie ein "echter", philosophischen und wissenschaftlichen Ansprüchen genügender Begriff auszusehen hätte - ein Begriff, der die Inhalte nicht als Quantités négligeables behandelt, weil deren Besonderheiten für ihn Notwendigkeiten sind. Die Lösungsperspektive liegt, kurz gesagt, in einer neuen Verhältnisbestimmung von Sein und Bedeuten, für die Cassirer parallele Entwicklungen in der zeitgenössischen Wissenschaftswelt geltend macht. Demnach vollzieht sich der Weg begrifflicher Abstraktion nicht länger als ein Absehen vom Besonderen, sondern über verschiedenartigste und selbständige "Denkakte, deren jeder eine besondere Art der Deutung des Inhalts, eine eigene Richtung der Gegenstandsbeziehung in sich schließt".

Hier, in dieser frühen Schrift des Jahres 1910, hat Cassirer jene umfassende Grundlegung vorgenommen, die sein weiteres Philosophieren hält und trägt. Kritik und Nachwelt haben das nicht immer erkennen wollen, und so steht jene Reaktion auf das Leibniz-Buch exemplarisch für die Rezeption seines OEuvres überhaupt. Immerhin mag es dem jungen Cassirer eine Genugtuung gewesen sein, daß er dem Start der Akademieausgabe seinerzeit mit einer vierbändigen Edition von Leibniz' Hauptschriften zuvorkam, die noch heute Maßstäbe setzt. Die Geschichte jener Preisvergabe aber nahm währenddessen ihren Lauf. Als zum Termin im Jahr 1905 nicht eine einzige Bewerbungsschrift eingegangen war, wurde die Ausschreibung nochmals verlängert und führte zu dem gleichen niederschmetternden Resultat. Schließlich hatte die Kommission ein Einsehen. Das Preisgeld von fünftausend Mark ging je zur Hälfte an die beiden Bibliographen, denen der Katalog der Leibniz-Handschriften zu danken war: Dr. Willy Kabitz aus Breslau und Paul Ritter, Berlin.

RALF KONERSMANN

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