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Vom 11. bis 14. Dezember 1817 ist eine junge Verwandte, Gertrude Cassi-Lazzari, zu Gast im Haus der Familie Leopardi. Giacomo Leopardi verliebt sich in seine schöne, um sieben Jahre ältere Cousine. Die Erfahrung dieser Liebe schlug sich in dem Gedicht "Die erste Liebe" und in einem wohl nicht zur Veröffentlichung bestimmten Prosatext, dem "Tagebuch der ersten Liebe" nieder. Während in den Terzinen des Gedichts der Einfluß Petrarcas durchscheint, enthält die Prosa des Tagebuchs eine höchst eigenwillige Mischung aus Spontaneität und Bewußtsein; es ist, als ließe sich die stilistische Gewandtheit…mehr

Produktbeschreibung
Vom 11. bis 14. Dezember 1817 ist eine junge Verwandte, Gertrude Cassi-Lazzari, zu Gast im Haus der Familie Leopardi. Giacomo Leopardi verliebt sich in seine schöne, um sieben Jahre ältere Cousine. Die Erfahrung dieser Liebe schlug sich in dem Gedicht "Die erste Liebe" und in einem wohl nicht zur Veröffentlichung bestimmten Prosatext, dem "Tagebuch der ersten Liebe" nieder. Während in den Terzinen des Gedichts der Einfluß Petrarcas durchscheint, enthält die Prosa des Tagebuchs eine höchst eigenwillige Mischung aus Spontaneität und Bewußtsein; es ist, als ließe sich die stilistische Gewandtheit des jungen Schreibers durch das Staunen da und dort gern aus dem Gleichgewicht bringen. Dabei verwendet er nicht die Bilder der Welt, um zu beschreiben, wie elend ihm zumute ist, sondern er geht seinen eigenen Erfahrungen und Empfindungen nach, um sich und uns zu zeigen, wie es "in den Eingeweiden der Liebe" aussieht.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.11.1998

Wie man eine Dame mit Anstand versäumt
Erotischer Hungerkünstler, großen Ruhm erwartend: Leopardi sehnt sich sehr nach seiner Kusine Gertrude / Von Rolf Vollmann

Leopardi, schreibt ein enger Freund, sei mittelgroß gewesen, von leicht gebeugter, schlanker, fast schmächtiger Gestalt, er habe einen starken Kopf gehabt, eine kluge offene Stirn, feuchte große Augen, eine scharf gezeichnete Nase und dabei feine Gesichtszüge, von sehr bescheidenen Ausdruck, und ein himmliches Lächeln. Er war zu dem Zeitpunkt siebenundzwanzig Jahre alt, und man darf annehmen, daß er mit neunzehn nicht viel anders aussah.

Als er neunzehn Jahre alt war, kam in sein Elternhaus in Recanati (in den Marken, der Lieblingsgegend Jacob Burckhardts) seine Kusine Gertrude auf Besuch, für nur drei Tage, gegen Weihnachten des Jahres 1817. Sie war sechsundzwanzig, und ihr Gesicht, schreibt Leopardi am 14. Dezember, sei von feinen, aber entschieden gezeichneten Zügen, von guter Farbe, mit schwarzen Augen, und noch nie in seinem Leben habe er eine Frau von so hohem Wuchs und mit so kräftigen Gliedern gesehen.

Man ahnt, daß sie den schmächtigen Vetter eigenhändig hätte vermöbeln oder vergewaltigen können, je nachdem ihr zumute gewesen wäre. Sie war, nach Leopardis Worten, mit einem dicken friedfertigen Ehemann von über fünfzig unterwegs. Sie sei aus Pesaro, sagt Leopardi, und ihr Benehmen sei nicht affektiert, sondern nah dem der Frauen aus der Romagna und namentlich aus Pesaro, diesen Frauen, die "wegen einer gewissen nicht ausdrückbaren Eigenschaft" ganz anders seien als die Frauen in den Marken. Zwei Tage später, am 16. Dezember, schreibt er von "einem gewissen Etwas, für das ich keinen Ausdruck habe", und von einer Art, die "hundertmal mehr wert sei als die der Frauen aus den Marken". Im nächsten Satz, in eine Klammer gesetzt, gesteht er, niemals andere Frauen gesehen zu haben als die aus den Marken.

Daß er keinen Ausdruck habe für etwas, das er niemals vorher sah, ist einerseits eine ausgesprochen rationale Vorstellung, andrerseits eine Vorstellung von auffallender Widersprüchlichkeit, denn wo sollen Ausdrücke sich sonst bilden als angesichts dessen, für das sie dann stehen; es sei denn, Leopardi meint, alle andern Ausdrücke, die er ziemlich mühelos anwendet, habe er aus Büchern. Unmöglich wäre das nicht, Leopardi war schon mit vierzehn, fünfzehn Jahren ein versierter Philologe, hatte später aus dem Griechischen übersetzt, eine Geschichte der Astronomie geschrieben und dergleichen mehr, nicht gerechnet eigene Gedichte, Tragödien und so weiter.

Vielleicht empfindet er ein so anziehendes Gesicht auf einem so eindrucksvollen Körper als etwas, für das er, verglichen damit, wie es auf ihn wirkt, nichts Gelesenes oder selber Gedichtetes parat hat. Womöglich kann er gar nicht das, was ihn da trifft, anders ausdrücken, als indem er sagt: Seht, selbst ich, der ich doch die Alten so gründlich kenne und selber dichte wie vor mir allenfalls Petrarca, selbst ich habe hier noch keinen Ausdruck in petto für die Art dieser Frau aus Pesaro. Wenn das so ist, dann würde er im Grunde nicht meinen, was er sagt, sondern uns nur die Gewalt dessen empfinden lassen wollen, wovon er redet. Das hatte Petrarca auch immer so gemacht, etwa wenn er Berge bestieg.

Länger als ein Jahr schon, so beginnt er seine kleine Aufzeichnung, habe er sich gewünscht, mit hübschen Frauen zu reden. Diese nun, Gertrude, mißfällt ihm nicht, als sie am Donnerstag abend kommt, und er kuckt sie unentwegt an, aber nur wie ein schönes Gemälde, sagt er. Am Freitag abend, während sie mit seinen Geschwistern Karten spielt, muß er an einem andern Tisch Schach spielen; hinterher möchte sie, daß er ihr das Spiel erklärt, und das macht er auch. Am nächsten Abend spielt er mit ihr, Schach wohl, und hat sie, schreibt er, mit Späßen zum Lachen gebracht, und sie habe ihn sogar angelächelt.

Er findet es sehr merkwürdig, daß er dennoch nicht zufrieden ist, und er weiß nicht, warum; es handle sich nicht, sagt er, um ein Bedauern darüber, daß er eine Gelegenheit ungenutzt hätte vorbeistreichen lassen. Darauf geht er ins Bett und resümiert seine Gefühle - "eine unbestimmte Unruhe, Unzufriedenheit, Melancholie, ein wenig Süße, viel Zuneigung" und ein tiefes Verlangen: "ich wußte und weiß nicht, wonach, und unter den möglichen Dingen erkenne ich nichts, das es stillen könnte."

Gertrude ist sechsundzwanzig, er ist neunzehn, sie gefällt ihm und offenbar er, ungeachtet seines Schmachtens, auch ihr; man glaubt ihm nicht, daß er nicht weiß, wonach sein Verlangen geht und daß er unter den möglichen Dingen nichts kennt, das es stillen könnte. Oder er will wieder darauf hinaus, daß er alles mögliche kennt, aus den Schriften der vielsagenden Alten etwa, aber daß er genau deshalb ahnt, wie über alles Vorstellen hinaus ihn die Wirklichkeit dessen umwerfen würde, was er will.

Wenn man hier weiter sinniert, kommt man an den Punkt, daß der Kuß (nennen wir es den Kuß) hier dieselbe sich selbst offenbarende Kraft erhält, die sonst Gott hatte. Vater Leopardi war ein sehr katholischer Mann, Leopardi fühlte sich im Haus eingesperrt. Was erkennt er nun hinter all dem Getue? Den Kuß oder das, was Gertrude hätte zur Linderung seines Verlangens. Natürlich hätte er sich freuen können, etwas Handfestes dort zu sehen, wo sonst nur zu glauben war. Aber das konnte er nicht; zu tief saß in ihm die Vorstellung fest, daß das Geglaubte, wenn es sich als handfest entpuppte, nichts mehr wäre. Wenn die Lust das einzige ist, was von der Ewigkeit bleibt, dann ist es nicht weit her weder mit dieser noch mit jener. Was dann bleibt, ist jenes Mitleid mit uns selber, das manchmal Leopardis Gedichte so süß macht . . . Man könnte aber auch sagen, daß er ein metaphyischer Jammerlappen war, in dem Sinne, in welchem Lichtenberg Werther einen Hasenfuß nennt.

Er träumt von ihr, er denkt beim Aufwachen an sie, er weiß, daß er sie nicht wiedersehen wird, weil sie am frühen Morgen wieder abreist. Er liegt wach, hört die Pferde vorbeilaufen, die Kutsche, noch einmal die Stimme. Den ganzen Tag werfen alle Gesichter, die er sieht, Schmutzflecken auf das Bild, das er in sich trägt; er verachtet fast alles, was er sonst liebte, selbst Bücher sagen ihm nichts und fast auch nichts mehr der Ruhm, sagt er. Er beginnt am Sonntag abend alles aufzuschreiben. Am Montag, schreibt er am folgenden Tag, habe er sehr schlecht geschlafen und wirr geträumt und alles gewissermaßen ein zweites Mal in Versen aufzuschreiben angefangen; daran habe er den Tag über weitergemacht, bis Dienstag morgen, da sei das Gedicht fertig gewesen. Das Gedicht haben wir, es hat einhundertdrei Verse, in Terzinen, wohlklingend, schön. Man denkt an Petrarca, wenn man es liest.

Danach ist ihm wohl, besonders, weil ihn seine Verse wieder mit dem Ruhm versöhnen, den er erlangen will. Melancholie, Stille und Nachdenklichkeit ziehen wieder in ihm ein, und die Empfindungen lassen nach. Aber in dem Maße, wie sie nachlassen, hält er sie zurück, denn er findet, sagt er, daß sie "sein Denken größer" gemacht, sein "Gemüt erhabener und edler als sonst", daß sie "sein Herz den Leidenschaften geöffnet haben". Er wendet alles, also daß er groß geworden ist durch das, was er in derRealität nicht hatte oder verlor, wieder aufs Leben zurück und sagt, zweierlei werde ihn nunmehr beherrschen, erstens kräftige Gesichtszüge und eine große Statur (schon immer hätten ihm schmachtende jungfräuliche zarte Gesichter auf kleiner Statur wenig behagt; so wie er, weiblich) und zweitens an den Frauen von Pesaro jenes Etwas, für das er keinen Ausdruck habe.

Abends im Bett, schreibt Leopardi am 19. Dezember, versuche er oft an Gertrude zu denken, sich ihr Gesicht zu vergegenwärtigen; aber er sehe nur Umrisse und schlafe darauf mit "umnebeltem, erhitztem, schmerzendem Kopf" ein. Natürlich sagt er nicht alles, wenn er so redet, aber wir verstehen ihn. Nur blitzartig manchmal, ungewollt, erscheint sie ihm noch, und wenn sie wieder verschwindet, hat er das Gefühl, lieber, als an dem Bild festzuhalten, gehe er zu seinen Büchern. Er träume davon, schreibt er am 22. und 23. Dezember, die Bücher mit der Liebesleidenschaft in Einklang zu bringen, und malt sich aus, wie er einmal etwas schreiben wird, das ihm Ruhm bringt, und wie er darauf von jeder Dame "voll Freude und Hochachtung emfangen" werde. Gleichwohl wisse er, daß er sie eines Tages vielleicht vergessen haben wird, wenn auf jene "gefürchtete Freude" die Rede kommt. Wirklich gibt er zwei Sätze danach zu, daß wahrscheinlich auch ein anderes schönes Gesicht ihn dasselbe hätte erleben lassen wie das Gertrudes; und sagt nicht noch einmal, daß es wenigstens aus Pesaro sein müsse.

Er hat die Kusine nicht berührt, nicht geküßt, dieser erotische Hungerkünstler, obgleich sie ihn bis in seine Träume verfolgt, wenn sie ihn zum Träumen kommen läßt. Einmal sagt er, er könne sich, wenn er sich ihre Gestalt vergegenwärtige, ihren Mann genauer vorstellen. Er war ihr Verwandter, sie wird ihn sich angeschaut haben, viel genauer, als sie das bei einem Fremden dürfte. Er wird sie neugierig auf sich gemacht haben, das wird man sagen können. Schade, daß wir von ihr keinen Bericht haben über ihren schmächtigen Vetter, der ihre Statur nur zum Sprungbrett seines Ruhms benutzte. Wenn es je auf der Welt eine reine platonische Zuneigung gab, sagt er, wäre es seine gewesen. Uns schaudert ein wenig, wenn wir auf diese Weise eine Ahnung davon bekommen, was eine platonische Liebe ist.

Rousseaus Julie, sechzig Jahre vorher, hatte immerhin mit ihrem Liebsten geschlafen und unterhielt sich mit ihm offen darüber, wenn er sich selbst befriedigte, auf der einen Seite des Sees, während sie auf der anderen war. Goethes Werther läßt sich immerhin zu einem Kuß hinreißen von Lotte, die ihm tanzend schon deutlich mitgeteilt hatte, daß sie gern mit ihm schlafen würde, und er erschießt sich ja keineswegs, weil er denkt, der Kuß sei etwas Schlechtes gewesen, eher im Gegenteil.

Aber in den schönen Marken, wo erst wieder Burckhardt jenes Arkadien vermutete, wo sich bei den Alten Schäferinnen und Schäfer so herrlich leichthin in den Armen lagen, hier ist nun fürs erste alles zu Ende. Leopardi rühmt sich, daß wenn sie aus den schlaflosen und böse verträumten Nächten erstand, eine platonische Liebe "bar auch des dünnsten Schattens von Schmutz" war, und "jeder Verdacht eine Schändlichkeit", sagt er, würde sie so betrüben, daß sie "auf der Stelle mit höchstem Grauen" in sich zusammensinke.

Zwar, sagt er dann, wünschte er schon, auch in seinem Gesicht, wie dem seiner Kusine, etwas zu finden, das gefallen könnte; er schäme sich ja auch seiner leidenschaftlichen Gefühle nicht. Es mache ihn froh, eine Leidenschaft kennengelernt zu haben, "ohne die man nicht groß sein kann". In diesen vorweihnachtlichen Tagen seines Schreibens habe er nichts lesen können, was andere über die Liebe geschrieben hätten, nicht einmal seinen geliebten Petrarca; und noch heute (am 22. und 23. Dezember) gehe es ihm so.

Er wisse wohl, so beendet er seinen Bericht, von ganz anderen Wirkungen, die die Liebe meistens habe: "weil sie aber bei mir nicht eingetreten sind, habe ich sie auch nicht beschrieben, wenngleich ich vielleicht manchmal einen Schimmer davon wahrnahm, der jedoch so zweifelhaft und so gering war, daß ich ihm keine Beachtung schenken wollte". Bis hin zu diesem "wollte" ist das der Satz der größten Selbstbeschwindelung, den je ein junger kluger Mensch über die Liebe geschrieben hat.

Es sei denn, man sagt sich, daß hier einer ein letztes Mal und im Wissen, daß dies wohl das letzte Mal ist und er lieber draufgehen will als davon zu lassen, darauf besteht, oder darauf bestehen möchte, soweit es seine armen Kräfte zulassen, daß die Seele es ist, die gebildete göttliche Seele mit ihren wundervollen und dem Verlangen abgetrotzten Sublimationen, dank derer wir groß sein können.

Giacomo Leopardi: "Tagebuch der ersten Liebe". Aus dem Italienischen übersetzt und herausgegeben von Marianne Schneider. Mit den Terzinen "Die erste Liebe" in der Übertragung von Hanno Helbig. Friedenauer Presse, Berlin 1998. 32 S., br., 16,80 DM.

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Rezensent Thomas Steinfeld liest Giacomo Leopardis dichterische Verarbeitung der ersten Liebe zusammen mit den Tagebucheinträgen des Dichters von 1817 mit Gewinn. Die Übersetzung von Marianne Schneider und das Nachwort von Frank Witzel bieten ihm eine gelungene Hilfestellung für das Verständnis der Texte. Wie Leopardi Ereignis und Gefühl in Worte fasst, ist Steinfeld aber durchaus auch ganz unmittelbar zugänglich. Staunenswert scheint Steinfeld die Modernität des Autors, der sich so kunstvoll von herkömmlichen Formen für die Darstellung von Empfindungen verabschiedet.

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