Thea Sternheim (1883 - 1971) war hierzulande meist nur als die zweite Frau des Dramatikers Carl Sternheim bekannt. Literarisch trat sie lediglich mit dem Roman „Sackgassen“ (1952) hervor, an dem sie jahrzehntelang gearbeitet hatte. Auch ihr Briefwechsel mit Gottfried Benn, der diesen Roman mit
energischem Zuspruch gefördert hatte, wurde veröffentlicht.
Der Göttinger Wallstein Verlag hatte…mehrThea Sternheim (1883 - 1971) war hierzulande meist nur als die zweite Frau des Dramatikers Carl Sternheim bekannt. Literarisch trat sie lediglich mit dem Roman „Sackgassen“ (1952) hervor, an dem sie jahrzehntelang gearbeitet hatte. Auch ihr Briefwechsel mit Gottfried Benn, der diesen Roman mit energischem Zuspruch gefördert hatte, wurde veröffentlicht.
Der Göttinger Wallstein Verlag hatte schließlich 2002 ihre Tagebücher herausgebracht, die wegen ihres gewaltigen Umfangs und der zeitlichen Ausdehnung längst zu den großen literarischen Zeugnissen des vergangenen Jahrhunderts zählen. Nun liegt diese fünfbändige Ausgabe mit immerhin 3700 Seiten in einer zweiten, durchgesehenen Auflage vor.
Thea Sternheim war die Tochter eines wohlhabenden Fabrikanten, der ihr ein nicht un-beträchtliches Vermögen hinterließ. Zunächst war sie mit dem zehn Jahre älteren Rechtsanwalt Arthur Löwenstein verheiratet. Bereits während ihrer ersten Ehe begann Sternheim mit ihren Tagebuchaufzeichnungen. 1907 heiratete sie Carl Sternheim, von dem sie sich jedoch bald entfremdete. Schuld waren die Untreue des Ehemannes und dessen Verschwendung ihres Vermögens. 1927 wurde die Ehe geschieden.
Bereits 1932, noch vor der faschistischen Machtergreifung, emigrierte Thea Sternheim nach Frankreich. In Deutschland wurde ihr Vermögen eingefroren und ihr die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt. Nach Kriegsende blieb sie in Frankreich, zog 1963 zu ihrer Tochter Agnes nach Basel, wo sie 1971 im Alter von 87 Jahren verstarb.
Mit zwanzig Jahren hat Sternheim mit dem Tagebuchschreiben begonnen und damit erst 65 Jahre später, nur wenige Wochen vor ihrem Tod, aufgehört. Nur einmal, im Spätsommer, hat sie das Führen ihres Tagebuchs für drei Monate unterbrochen. An 19.211 Tagen ihres Lebens hat Sternheim Tagebuch geschrieben und mit den Notizen und Aufzeichnungen ca. 30.000 kleinformatige Seiten gefüllt. Dabei enthält das Tagebuch nicht nur eigene Texte, sondern auch Briefe sowie Zeitungsmeldungen und -artikel.
Die Tagebücher sind nicht nur ein großartiges Zeugnis eines außergewöhnlichen Lebens sondern auch ein erstrangiges Panorama der westeuropäischen Geschichte und Kultur von der Jahrhundertwende bis in die Nachkriegszeit. Die Autorin hat mit wachem Auge die bewegten und wechselhaften Zeiten des 20. Jahrhunderts festgehalten.
Auch ihre häufigen Ortswechsel werden immer wieder erwähnt und begründet, ebenso die Begegnungen mit zahlreichen Freunden und Persönlichkeiten. Ihre Aufzeichnungen sind die Wahrnehmungen einer gebildeten und hellwachen Frau, „für die das Lesen, Reflektieren und Schreiben zeitlebens ein Lebensinhalt war“. Immer wieder dokumentiert Sternheim ihr Streben um Selbstständigkeit und Emanzipation. Auch familiäre Probleme und Auseinandersetzungen in der immer schwieriger werdenden Ehe und mit den drogensüchtigen Kindern finden hier ihren Niederschlag.
Das Tagebuch ist nicht auf eine Veröffentlichung hin geschrieben. Lange hat Sternheim gezögert, es dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach zu übergeben. Zuvor hat sie es noch einmal durchgearbeitet und einige Stellen geschwärzt. Es sind dies vorwiegend Passagen zu religiösen Fragen und Gedanken.
Die vorliegende fünfbändige Edition bringt etwa ein Drittel des Gesamttextes, wobei der fünfte Band den ausführlichen Kommentaren und einem umfangreichen Register vorbehalten ist. Einen editorischer Bericht und ein Nachwort der Herausgeber findet der Leser hier ebenfalls. Eine besondere Zugabe ist eine CD-ROM, die die vollständigen Tagebücher als Datenbank (Arbeitsfassung) bietet.
Die Ausgabe ist eine vorbildlich gestaltete Edition, die zu einer aufmerksamen Lektüre über Wochen und Monate einlädt. Ein einzigartiges Lebens- und Zeitdokument. Ein Buch, das fesselt, bewegt und nachdenklich macht.
Manfred Orlick