Der Band ist, was erreichbar war, bis weitere Tagebücher in Moskau aufgefunden und dann in einer Monumentalausgabe zugänglich gemacht wurden.
So vieles ist darin:
Kessler wagt mit Gide eine Bewertung der Architekturstile, protokolliert den Aufstieg Hitlers zur Macht mit wenig schmeichelhafter
Beurteilung von Papen, stellt Schmitt sich den Nationalsozialisten anbiedernd dar in seinen Auslegung…mehrDer Band ist, was erreichbar war, bis weitere Tagebücher in Moskau aufgefunden und dann in einer Monumentalausgabe zugänglich gemacht wurden.
So vieles ist darin:
Kessler wagt mit Gide eine Bewertung der Architekturstile, protokolliert den Aufstieg Hitlers zur Macht mit wenig schmeichelhafter Beurteilung von Papen, stellt Schmitt sich den Nationalsozialisten anbiedernd dar in seinen Auslegung des Verbots der Uniform.
Eine sehr skeptische Beurteilung des Liebestods (anders als andere Bemerkungen hier gibt das Stichwortverzeichnis für Derartiges die Seiten nicht her, daher: s. S. 602). Auf S. 603 findet sich eine m. E. plausible, viel weniger negative Beurteilung als üblich der Rolle Wilhelms II für den Krieg.
Unsicherer Beginn Weimars etwa an eher skeptischen und doch wohl formalen Bemerkungen zu Amtseinführung Eberts, zur mangelnden rhetorischen Begabung von Hugo Preuß, im Überlegen einer energischen Reaktion auf die Ermordung Rathenaus, für den Zauderer Kessler nicht uncharakteristisch, dass „wegen Heiserkeit“ nicht reden konnte. Stresemanns Tod stellt Kessler als ein erstes großes europäisches Ereignis dar.
Kabinettsstücken mit Ausstrahlwirkung sind, wie der zunächst herablassend geschilderte Erzberger durch eine brillante Parade die Rechten in die Ecke treibt, wie Tschitscherin, zunächst unverständlich französisch sprechend, Verhandlungen zu bestimmen gelingt und Kessler dahinter eine englische Verabredung vermutet. Bewegend, gerade aufgrund der eher unbedachten Rekonstruktion im 21. Jahrhundert, ist seine Sympathie für das Neue bei einer Veranstaltung im Stadtschloss, die er als unpassend gerade deshalb empfindet, weil er dem biederen Bürgerlichen gegenüber dem protzigen Neubarock die Zukunft zuschreibt.
Fassungslos beobachtet er das zunehmende Abgleiten von Frau Förster-Nietzsche gemeinsam mit der damaligen Wagner-Familie in den Nationalsozialismus, die Instrumentierung des offenbar völlig überforderten O. Spenglers für das Nietzsche-Gedenken und die Banalisierung der einst aufrührerischen Nietzsche- und Wagner-Bewegungen.
Aufgrund seiner Begegnungen mit R. Strauß und Familie, vielleicht noch bereichert um die Erinnerungen Hartmanns, könnte man Strauß’ Biographie schreiben. Aus der Gesamtausgabe der Tagebücher während des Krieges bleibt Strauß‘ Stellungnahme für den Frieden, auch eine von Strauß‘ Problemen mit der Tristan-Musik in Erinnerung und eine vielleicht übertriebene Darstellung der Borniertheit von Strauß‘Frau, die doch für den Umgang mit Unbelehrbaren interessant bleibt.
Berührende Erinnerungen an Gespräche mit der Familie über den Tod Hoffmannsthals und mit Tilla Duriuex anlässlich des Todes von Paul Cassirer.
Der ferne Tod der Mutter zieht vorbei, von der er durch den Krieg so lange getrennt war, und deren Grab er besuchen wird.
Durchzogen werden die Tagebücher auch von den eigenen, jedenfalls im Tagebuch nur angedeuteten, aber dennoch klaren Neigungen zu Männern, etwa wenn er gegenüber Nostitz Päderastie anspricht und bei ihr anregt, ihren Ehemann zu fragen, Julien Green mit Freund auftritt.