Michail Prischwin (1873-1954) führte ab 1905 Tagebuch - nach der Oktoberrevolution im Verborgenen. Im diaristischen Schreiben wollte er sich der politischen und gesellschaftlichen Realität stellen, ohne seine innere Freiheit preiszugeben. In den Jahren 1930 bis 1932 zwingen ihn Anfeindungen, nach literarischen Formen zu suchen, die ihm erlauben, äußerlich den offiziellen Aufruf »Schriftsteller in die Kolchosen!« zu erfüllen, im Kern jedoch das Intime, Individuelle, Unverfügbare des Einzelnen festzuhalten. Mit dem ersten Fünfjahrplan und dem Novemberplenum 1929 begann nicht nur Stalins forcierte Industrialisierung des Landes und jene brutale Kollektivierung der Landwirtschaft, die Millionen Menschen das Leben kosten wird, sondern auch die Gleichschaltung der Kultur.Prischwin lebt in diesen Jahren in Sergijew Possad/Sagorsk in einem Holzhaus am Stadtrand. Zum Lebensunterhalt hält man eine Kuh, seine Frau baut Gemüse an, er geht auf die Jagd, immer mit einer Kamera im Gepäck. In dasvon Eveline Passet bohrend präzise übersetzte und kommentierte Tagebuch gehen Entwürfe für Briefe und literarische Texte ein, werden Recherchereisen dokumentiert, wird Gelesenes und Abgelauschtes notiert. Und auch die leuchtenden Beschreibungen der Natur fehlen nicht, seines beständigen tröstlichen Rückzugsorts. Unnachahmlich feinnervig seziert Prischwin die Gesellschaft im Umbruch, entwirft in knappen Miniaturen psychologische Porträts bekannter und unbekannter Zeitgenossen - und lehrt uns Nachkommen geduldiges Hinschauen und Nachdenken sowie den unbestechlichen Blick auf uns selbst.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Jan Röhnert staunt, wie Michail Prischwins Tagebücher aus den 1930er-Jahren ein eindringliches Bild des Lebens unter Stalin zeichnen. Prischwin, "eine Art sowjetischer Nature Writer", musste lernen, die "Brachialumgestaltung von Stalins roter Erdoberfläche zu billigen", um weiter publiziert zu werden, resümiert der Kritiker. Fasziniert und zugleich abgestoßen schildert er seine Reise nach Kabardino-Balkarien, wo ihn der regionale Despot Betal Kalmykow mit Projekten beeindruckt und zugleich kontrolliert: "Bei uns hockt der Schriftsteller in einem zugekorkten Einweckglas." Prischwin, so der Kritiker, zeigt sich dem Herrscher gegenüber aber auch opportunistisch, wie aus seinen Aufzeichnungen hervorgeht. Röhnert lobt die Vielstimmigkeit der Aufzeichnungen, in denen Reflexionen, Monologe und Lektürezitate ineinanderfließen, während Prischwin die "Weltkatastrophe" als unausweichlich kommen sah.
© Perlentaucher Medien GmbH
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