Produktdetails
- Verlag: Allen Lane / Penguin Books UK
- Seitenzahl: 467
- Erscheinungstermin: 20. Juli 2009
- Englisch
- Abmessung: 240mm
- Gewicht: 784g
- ISBN-13: 9781846141478
- ISBN-10: 1846141478
- Artikelnr.: 26033818
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Mit Hobbes, Habermas und Buddha: Amartya Sen verteidigt einen wertgesättigten Begriff von Gerechtigkeit
Eine der prägenden Kindheitserfahrungen des Wirtschaftswissenschaftlers und Philosophen Amartya Sen ist die Begegnung mit den Opfern der großen bengalischen Hungersnot des Jahres 1943. Mehr als drei Millionen Menschen kostete die Katastrophe das Leben, deren Zeuge der Sohn einer gutsituierten Professorenfamilie als Zehnjähriger wurde. Immer wieder hat Sen, der 1998 für seine Forschungen zu Wohlfahrt, Entwicklung und Lebensstandard mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet wurde und heute in Harvard lehrt, sich mit den Ursachen dieses für ihn offenkundig traumatischen Ereignisses beschäftigt.
Auch in seinem jüngsten, gerade erschienenen Buch "The Idea of Justice" kommt es als Vignette vor - und wird für den Leser Schlüssel zum Verständnis des Denkens Amartya Sens. Noch einmal bekräftigt der ökonomisch versierte Sozialphilosoph und erfahrene Politikberater hier seine vieldiskutierte These, dass es in funktionierenden Demokratien - anders als im britischen Kolonialreich - keine Hungersnöte geben könne. Wo politische Freiheitsrechte einen vernunftgeleiteten öffentlichen Diskurs ermöglichten, könnten unliebsame Tatsachen nicht unterschlagen werden. Der Protest der Bürger, der Druck des Parlaments zwinge Regierungen zum Handeln.
Demokratische Freiheit könne gewiss, so Sens Überzeugung, soziale Gerechtigkeit befördern. Doch das sei kein Automatismus: es brauche den Aktivismus politisch engagierter Bürger. Solches Engagement nimmt für Sen seinen Ausgang im aufmerksamen Blick auf das Schicksal des Nächsten, es wird angetrieben von einer Idee der Gerechtigkeit, die mehr ist als graue Theorie, sondern auf Realitäten schaut, auf konkrete Lebensumstände, auf Bedürfnisse und Handlungsoptionen.
Sens gewichtiges Buch ist eine leidenschaftliche Auseinandersetzung mit den kontraktualistischen Traditionen der politischen Philosophie, vor allem mit John Rawls' 1971 vorgelegter "Theorie der Gerechtigkeit". Scharf kritisiert Sen den "transzendentalen Institutionalismus", von dem er Rawls wirkmächtige Gerechtigkeitstheorie durchdrungen sieht. In überzogenem Perfektionismus ziele der in der gegenwärtigen politischen Philosophie dominante "transzendentale Institutionalismus" auf ideale institutionelle Arrangements ab, statt sich auf die gesellschaftlichen Realitäten zu konzentrieren, die im Ergebnis verwirklicht würden. Entscheidend ist für Sen, ob Institutionen Gerechtigkeit beförderten - weshalb die Institution selbst nicht schon als Manifestation des Gerechten zu behandeln ist.
Für Sen liegt der entscheidende Konstruktionsfehler in Rawls' Theorie der "Gerechtigkeit als Fairness" schon in der Annahme eines hypothetischen Urzustandes begründet, in dem die Einzelnen die normativen Grundstrukturen ihres Zusammenlebens hinter einem "Schleier des Nichtwissens" festlegen, der eigene Ziele, Interessen und Dispositionen im Dunkeln lässt. Rawls' Urzustand erlaubt es dem Einzelnen, sich selbst und die Welt sub specie aeternitatis zu sehen, vom je eigenen Standpunkt aus und doch aus dem Blickwinkel der Ewigkeit. Daraus resultiert nach Rawls, "dass die Situation des Menschen nicht nur unter allen gesellschaftlichen Gesichtspunkten, sondern von allen Zeiten her gesehen wird". Was aber, so Sens Einwand, ist mit der Perspektive des Anderen, der uns auch als Nächster fremd bleibt? Der nicht (oder nur partiell) Teil unserer politischen Gemeinschaft ist?
Amartya Sen bringt hier die von Adam Smith skizzierte, auch von Rawls rezipierte Figur des unparteiischen Beobachters neu ins Spiel. Adam Smith, der bei Werturteilen jede parochiale Engführung vermeiden wollte, betonte die Notwendigkeit einer beständigen selbstreflexiven Distanzierung von den eigenen Überzeugungen. Für Sen eröffnet diese Haltung dem mitfühlenden Beobachter einen Blick auf den Anderen, der zum Dialog über Werte und Traditionen befähigt. Damit begegnet er der Herausforderung eines kulturellen und religiösen Pluralismus, die auch für den späten Rawls unübersehbar geworden war, die dessen Theorie aber nicht beantworten konnte.
Im medial vernetzten global village sind wir zwar nicht alle Mitbürger, aber längst Nachbarn. Dem Phänomen zunehmender Transnationalisierung und nachhaltiger Dekonzentration politischer Gemeinschaften durch multiple Zugehörigkeiten versucht Amartya Sen daher durch eine Gerechtigkeitskonzeption zu begegnen, die den Menschen als mitfühlenden Akteur ernst nimmt, nicht nur als passiven Konsumenten, dessen Bedürfnisse von der eigenen Gemeinschaft befriedigt werden müssen. "Unsere Freiheit zu entscheiden, was uns wichtig ist und wie wir diese Werte verfolgen, reicht weit über unsere eigenen Interessen und Bedürfnisse hinaus. Die Bedeutung unseres Lebens erschöpft sich nicht in den kleinen Kästchen unserer eigenen Lebensstandards oder in unserer Bedürfnisbefriedigung."
Getreu dem gemeinsam mit Martha Nussbaum entwickelten "capability approach" geht es Sen um eine individuelle Befähigung des Menschen, die jedem gleiche Lebenschancen und Handlungsmöglichkeiten einräumt. Ethischer Minimalismus ist Sens Sache nicht: Statt auf einen schlanken prozeduralen, setzt er auf einen wertgesättigten materialen Gerechtigkeitsbegriff - und zeigt, dass dieser vermeintlich westlichen Differenzierung die altindische Unterscheidung von niti und nyaya entspricht. Immer wieder ermutigt Sen dazu, beim Nachdenken über Gerechtigkeit globale und lokale Perspektiven und Traditionen zusammenzuführen. Konsequent rekurriert er nicht nur auf Hobbes und Habermas, sondern auch auf Buddha, die Bhagavadgita und den legendären indischen Kaiser Ashoka.
Amartya Sens Buch bietet eine Fülle von Gedanken und Argumenten, die die Auseinandersetzung lohnen. Nicht zuletzt spiegelt der Band die Weite des Denkens, die Fülle praktischer Erfahrung eines großen Intellektuellen und engagierten Humanisten, der sich nie gescheut hat, Mögliches zu wagen und seine Überlegungen einem Praxistext zu unterziehen. Das Buch, von Sen seinem Freund und Kollegen John Rawls zugeeignet, zeigt indes auch, dass sich über Gerechtigkeit noch immer am besten auf der Grundlage kontraktualistischer Gerechtigkeitstheorien nachdenken lässt. An Rawls kommt man da nicht vorbei.
ALEXANDRA KEMMERER
Amartya Sen: "The Idea of Justice". Belknap Press of Harvard University Press, Cambridge, Mass., 2009. 496 S., geb., 21,95 [Euro].
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