Mit der gelungenen englischen Übersetzung des ersten Bandes von Mainländers Hauptwerk und der nahezu zeitgleichen Veröffentlichung des zweiten Bandes auf Spanisch kehrt ein Denken zurück, das nicht beruhigt, sondern erschüttert. Mainländer stellt nicht nur die philosophische Orthodoxie infrage,
sondern greift auch das metaphysische Grundgefühl vieler Menschen an: den Glauben an ein alles…mehrMit der gelungenen englischen Übersetzung des ersten Bandes von Mainländers Hauptwerk und der nahezu zeitgleichen Veröffentlichung des zweiten Bandes auf Spanisch kehrt ein Denken zurück, das nicht beruhigt, sondern erschüttert. Mainländer stellt nicht nur die philosophische Orthodoxie infrage, sondern greift auch das metaphysische Grundgefühl vieler Menschen an: den Glauben an ein alles durchdringendes, allumfassendes Prinzip – sei es als Gott, Bewusstsein, Energie oder Wellenfunktion gedacht.
Sowohl der Pantheismus als auch der Panentheismus beruhen laut Mainländer auf demselben Irrtum: dem Glauben an eine All-Einheit, die alles sei und alles hervorbringe. Ob man sie „Wille“, „Idee“, „Materie“ oder „das Absolute“ nennt – stets bleibt sie ein unbegreifliches Etwas, das der Welt zugrunde liegt und in ihr fortwährend am Werk ist.
Damit aber wird dem Einzelnen seine Wirklichkeit entzogen. Wenn alles nur Ausdruck einer höheren Einheit ist, dann ist das Individuum nichts als Funktion, Modus, Illusion. Freiheit, Verantwortung, Selbstsein – all das verblasst im Licht des Alls, des einzig Wahren. Der Mensch wird zur Marionette, seine Handlungen zu Vollzügen eines unsichtbaren Prinzips.
Mainländer widerspricht entschieden. Für ihn ist die Erfahrung des Ichs, die Wirklichkeit des Einzelnen, unbestreitbar. Die Natur selbst bezeuge dies: Sie zeigt uns keine Einheit, sondern eine unermessliche Vielfalt – nicht das Eine, sondern viele Individuen. Ich bin ein Ich – mit Wille, Widerstand, Gefühl und Bewegung. Ich bin nicht nur Ausdruck, sondern ein echtes Ganzes. Und wenn das für mich gilt, dann gilt es auch für jedes andere Wesen.
Daraus zieht Mainländer eine radikale Konsequenz: Die ursprüngliche Einheit ist nicht mehr gegenwärtig – weder in, noch hinter, noch über der Welt. Sie existierte einst, hat sich ganz geopfert und ist vollständig in der Vielheit aufgegangen. Die Transzendenz ist vergangen. Was bleibt, ist die Immanenz der Einzelwesen.
Diese Wesen sind weder vollkommen unabhängig noch völlig abhängig – sie sind halbautonom. Darin liegt ihr wahres Wesen. Jede Lehre, die das Individuum entweder zur absoluten Instanz erhebt oder zu einem bloßen Werkzeug degradiert, ist irrig. Das wahre Sein des Einzelnen liegt in der Mitte: zwischen absolut spontaner Freiheit und totaler Determination. Der Mensch handelt – und wird beeinflusst. Er wirkt – und leidet. Er ist zugleich Täter und Getriebener.
Diese Wiederherstellung des Individuums hat jedoch ihren Preis. Denn wenn sich die Einheit vollständig hingegeben hat, gibt es keine Quelle mehr, aus der neue Energie fließen könnte. Die Welt verbraucht sich. Sie bewegt sich dem Nichts entgegen. Die ursprüngliche Einheit ist nicht mehr vorhanden, um die Welt zu erhalten – sie hat sich in zahllose Einzelwesen zersplittert. Was bleibt, ist ein endlicher Kosmos halbautonomer Wesen, die sich selbst aufzehren.
Mainländers Philosophie fordert einen hohen Preis. Kein Trost, keine Hoffnung auf die Rückkehr des Göttlichen, keine metaphysische Vertröstung. Es bleibt nur die schonungslose Einsicht: Der Einzelne ist – wirklich, eigenständig, endlich. Und sein Tod ist ein endgültiger.
Bedauerlicherweise fehlt in der englischen Ausgabe der dem ersten Band zugehörige Anhang mit Mainländers Kritik an Schopenhauer und Kant. Gerade dieser Teil erleichtert den Zugang zu seinem Denken erheblich – und war es, wie Nietzsche selbst bekannte, der ihn schließlich von Schopenhauer abbrachte.