Produktdetails
- Verlag: Ullstein
- ISBN-13: 9783550091025
- Artikelnr.: 24148382
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Fritz J. Raddatz hat seine Erinnerungen aufgeschrieben und schont darin weder Feind noch Freund, am wenigsten aber sich selbst
Daß er unermeßlich reich sei, hieß es, daß er nur Jaguar fahre und früher, als er noch "Zeit"-Feuilletonchef war, seinen Redakteuren nach der Arbeit selbstbezahlten Champagner spendierte und die Notizen zum täglichen Geschäft des Ressorts in einer feinen, ledergebundenen Kladde aufzeichnete. Wer irgendwann nach Fritz J. Raddatz bei der "Zeit" war, der konnte solchen Geschichten nicht entfliehen. Sie stimmten nur zum Teil, es waren Legenden. Sie sollten erklären, daß Raddatz, der gern kanariengelbe Kniestrümpfe trägt, anders war, ein Spezialeffekt im ansonsten ganz und gar minimalistischen "Zeit"-Film.
Heute ist Fritz J. Raddatz nicht mehr bei der "Zeit", sondern waltet über die - wie soll man es vorsichtig sagen - nicht gerade überkapitalisiert wirkende Kurt-Tucholsky-Stiftung, deren Räume in einem trostlosen Hamburger Bürogebäude an eine von allen Privatpatienten verlassene Arztpraxis erinnern -, und er hat ein Buch geschrieben, "Unruhestifter" betitelt. Es sind seine Erinnerungen. Seit einigen Tagen ist es verfügbar, und längst klingeln bei den Etablierten des literarischen Betriebs die Telefone. Da wird, manchmal bang, manchmal hoffend, gefragt: Komme ich drin vor?
Denn er kennt ja alle. Als Cheflektor des Rowohlt Verlags und später als legendärer Feuilletonchef der "Zeit", als Hochschullehrer und Rundfunkautor ist Raddatz jahrzehntelang durch die Republik gewirbelt , den Ruf seiner Autoren, der "Zeit" und seinen eigenen mehrend, tröstend, zankend, sich verliebend und wieder trennend. Viele Berühmte werden das Buch von hinten, vom Namensregister her lesen, für Nichtberühmte lohnt es sich aber durchaus, von vorn zu beginnen. Was für ein furioser Anfang: In der ersten Szene taucht Johannes R. Becher auf, sie spielt in seinem Ministerbüro, es folgen Zarah Leander und Heinz Rühmann, ferner, korrespondierend, Thomas Mann - "Wie Thomas Mann mir kürzlich schrieb . . .", erklärte der Gymnasiast Fritz J. Raddatz dem Oberschulrat im mündlichen Abitur -, und dann kommen die Geschichten: vom Vater, einem Berufsoffizier der kaiserlichen Armee, später Direktor bei der Ufa, der beim geringsten Vergehen den Sohn so lange mit der Reitpeitsche schlägt, bis Lux, der Schäferhund der Familie, vor Mitleid zu winseln beginnt und dem Kind später, im gemeinsamen Refugium der Hundehütte, das Blut von den Wunden leckt. Und dann kommt die Nacht, in der der Sohn vom Vater geweckt wird, damit er vor dessen Augen mit der Stiefmutter schläft. "Die Frau meines Vaters ist die erste Frau, mit der ich geschlafen habe. Bürgerliche Aufklärung." Das sind nur die ersten elf Seiten, danach kommt es noch doller.
Fritz J. Raddatz hat seine Erinnerungen collagiert, zitiert aus Briefen und Tagebüchern, und wer etwas wissen will über das kulturelle Leben dessen, was wir nun die alte Bundesrepublik nennen, oder auch über das der frühen DDR oder Frankreichs, der wird um die Lektüre dieses Buchs nicht herumkommen. Sie sind alle da: Günter Grass, Rudolf Augstein, Paul Wunderlich, Hans Mayer, Hubert Fichte, Uwe Johnson, Hemingway, James Baldwin, Marlene Dietrich, Susan Sontag, Kempowski, Enzensberger, Rühmkorf, García Márquez, Alberto Moravia und, na ja, alle anderen irgendwie auch. Das sind nicht bloß literarische Anwesenheiten, sondern physische, essende und trinkende, liebende und zankende. Es muß Abende gegeben haben, in Raddatz' Hamburger Wohnung, an denen alle oben genannten plus Willy Brandt auf den Sofas saßen. Günter Grass und Rudolf Augstein, denen er beiden eigene Kapitel widmet, werden als Freunde porträtiert, scharfsichtig, humorvoll und voller Zärtlichkeit. Aber: dort stehen auch die kritischsten, die härtesten Sätze, die man über beide seit langem irgendwo lesen konnte. Einmal, im Privatflugzeug, gibt Rudolf Augstein dem schwierigen Freund recht und sagt über sich: "Es ist das Geld, das mich verdorben hat." Und über einen Abend mit Grass zitiert Raddatz aus seinem Tagebuch "Er wird nervös und geradezu ärgerlich, wenn andere sich unterhalten und nicht auf sein Sphinxwort warten, mit dem er alle sieben Welträtsel löst."
So schonungslos zärtlich verfuhr Raddatz hier auch mit der "Zeit", dem "Haus" wie er gut hanseatisch formuliert. Es sind die bösesten Anekdoten aus einer Redaktion, von der er sich ebensowenig lösen konnte wie sie von ihm. In einer ersten Rezension hat sein einstiger Chef, Theo Sommer, ihm vorgeworfen, ein Rachebuch geschrieben zu haben, Rache für die Absetzung als Feuilletonchef 1986. Raddatz ist ganz unglücklich über den Begriff der Rache: "Ich schildere das Haus ,Zeit' liebevoll, ironisch. Ich habe gar keinen Grund, ein Rachebuch zu schreiben. Wieso denn? Ich habe fünfundzwanzig Jahre meines Lebens für dieses und in diesem Haus gearbeitet." Sooft er von der Kälte in der Redaktion schreibt, von den leicht lächerlichen Anekdoten rund um Gräfin Dönhoff und Henry Kissinger, davon, wie niemand ihm zuhören will, wenn er mal Probleme hat oder gar Geldsorgen, so sehr wird in seinen nahezu beleidigenden Passagen über die Kollegen von "Spiegel" und "Stern" deutlich, daß er die liberale Wochenzeitung doch für konkurrenzlos hält.
Nun ist es nicht so, daß es in dem Buch keine Bitterkeit gäbe. Sie nimmt auf den letzten hundert Seiten zu, wo die Zeit vom Ende der achtziger Jahre bis heute beschrieben wird, die Zeit der "Verschneckung", wie es Raddatz nennt, in der die Kontakte abreißen, der Dank ihm versagt bleibt, man ihn vergißt. "Die gesamte Korrespondenz bricht mit Aplomb ab, nachdem ich nicht mehr Feuilletonchef war."
Es ist aber auch eine existentialistische Bitterkeit über den Leichtsinn der Menschen, die Vergeßlichkeit der Freunde, die Flüchtigkeit des Ruhms und vor allem über den Verrat in der Liebe: "Du bist der Zärtlichste von allen", murmelt ein Geliebter im Bett, den Raddatz bis dahin für treu hielt. Im Fragebogen dieser Zeitung hat Raddatz auf die berühmte erste Frage "Was ist für Sie das größte Unglück?" geantwortet: "Geboren zu sein." Wenn man ihn daran erinnert, schaut er ganz bestürzt und ernst und murmelt eifrig bekräftigend: "Ja, ja." Dann klingt er, der Zweiundsiebzigjährige, als sei er im Werther-Alter. Der Selbstmord ist ein Leitmotiv des Buchs. Einen Geliebten hat Raddatz so verloren, er selbst trägt sich wohl des öfteren mit dem Gedanken. Einmal schildert er, wie der Feindfreund Uwe Johnson mit ihm auf dem Balkon steht und den vor Liebeskummer verzweifelten Raddatz ermahnt: "Hier wird sich, Fritzchen, nicht runtergestürzt." Im Fragebogen antwortet er auf "Wie möchten Sie sterben?" - "Selbstbestimmt."
In "Unruhestifter" stehen die vernichtendsten Sätze über Fritz J. Raddatz, und das will wirklich etwas heißen, denn seine Romane haben hierzulande regelmäßig die sarkastischsten Kritiken geerntet. Gegen Ende ist er wieder bei Thomas Mann angelangt, dessen Tagebücher er in seinem eigenen Tagebuch, am 19. Januar 1992, kommentiert: "Ich stelle mich im Augenblick ohnehin total in Frage; nun, nach dieser Lektüre, noch totaler: Denn ich spiele Thomas Mann, mit allerlei Zeremoniösitäten und spinösen Ritualen, auch mit der eisernen Disziplin (jeden Morgen schwimmen gehen) - aber heraus kommt nur Mist. Da entstand immerhin ein Werk, das wohl dauern wird. Hier bei mir / von mir entstehen Mückenschisse."
In den Erinnerungen von Arthur Miller, "Zeitkurven", steht der berührendste Satz in einer einzigen Zeile, es ist eine Bildunterschrift. Sie zeigt das Paar Miller / Marilyn Monroe kurz vor der Hochzeit, und der Satz lautet: "Die beste Zeit." Im Leben von Raddatz war das die Zeit mit Heinrich Maria Ledig-Rowohlt, den er Anfang der fünfziger Jahre kennenlernt. Der Wahnsinn, die Großzügigkeit, die Zärtlichkeit des Verlegers - dieses Kapitel ist das berührendste, aber auch das komischste im ganzen Buch. Einmal lädt Ledig-Rowohlt, ganz der vollendete Gastgeber, den schwulen amerikanischen Autor James Baldwin ins Bordell ein und bemerkt zu seiner Bestürzung zu spät, daß da nur Frauen warten: "O Gott, meine Lieben, meine Süßen", rief er und schlug sich an die Stirn, "rasch ein paar Jungs her, ich bin ja von Gott verlassen."
Sich kümmern um die Leute, das ist auch so ein Zug, den Raddatz hat. Auch das war der Stoff von Legenden: Wie er nachts um zwei erschöpfte Redakteure auf ihrer Schreibmaschine schlafen ließ, ihren Text selbst fertig schrieb und sie dann behutsam mit seinem Auto nach Hause fuhr.
Daran erinnert er sich jetzt, in der kargen Tucholsky-Stiftung, und hadert mit sich selbst: "Ich dachte immer: Man kann oder gar man sollte Menschen umarmen. Sehr heikel. Ich bin gar nicht sicher, ob das das richtige Lebensrezept ist . . . Und nur gedankt ist es mir ja auch nicht worden . . ."
In so vieler Hinsicht hat er lange von einem anderen Leben geträumt: in Frankreich zu leben - "in Frankreich komme ich gut an", sagt er fröhlich -, ein anerkannter Romancier zu sein, und oft genug auch davon, sich von den Menschen abwenden zu können, so eine schopenhauerhafte Haltung in alltägliche Praxis umsetzen zu können, weniger verletzbar zu sein und souveräner. Aber von allen Lebensentwürfen muß das als der utopischste gelten: "Es ist in mir nämlich eine Menschenliebe. Das ist doch fragwürdig. Soll man denn die Menschen überhaupt lieben oder nicht doch eher Misanthrop werden und sagen, alles Pack!? Das ist aber in mir nicht drin, wie einer Geige eine Saite fehlt, oder welche Metapher Sie dazu finden wollen."
NILS MINKMAR.
Fritz J. Raddatz: Unruhestifter. Erinnerungen. Propyläen Verlag, 2003. 495 Seiten. 24,00 Euro.
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