Lange Zeit stand der Täter im Vordergrund aller kriminalpolitischen und strafrechtlichen Bemühungen um eine angemessene Antwort auf Verbrechen und ihre Folgen. Das Opfer kam argumentativ nicht vor. Es handelte sich im wesentlichen um eine Zweierbeziehung zwischen Täter und Strafrecht. Es ging darum, dem Täter gerecht zu werden, und im Komplex von Schuld und Strafe galt der Täter vielen als das eigentliche Opfer, nämlich als Opfer staatlicher Vergeltungsmaßnahmen. Das Verbrechensopfer selbst hingegen, dessen Anspruch auf Gerechtigkeit der Staat im Namen des Gewaltverbots gleichsam "enteignet" und in die eigene Hand nimmt, trat an den Rand des Blickfelds. Heute ist das anders geworden. Nicht Freiheit vor staatlichen Übergriffen, sondern Sicherheit vor Kriminalität beherrscht die Diskussion, und ein opferorientiertes Strafrecht gewinnt zunehmend an Boden. Der Staat ist in unserer Wahrnehmung heute eher Schutzmann als Kerkermeister. Dieser Wandel wirft zahlreiche Probleme auf, denen Winfried Hassemer und Jan Philipp Reemtsma in ihrem Buch nachgehen. Sie lassen sich auf eine einzige Frage zuspitzen: Ist die Täterorientierung des Strafrechts ein unverzichtbares Kennzeichen des Rechtsstaats und ein Gebot unserer Verfassung? In ihrer differenzierten Analyse, die juristische und rechtspraktische Aspekte ebenso einbezieht wie moralphilosophische und kulturhistorische, gewinnt ein Programm Konturen, das den Ansprüchen von Verbrechensopfern auf Einbeziehung in die Aufmerksamkeit von Strafrecht und Kriminalpolitik stärker als bislang Rechnung trägt.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Es hätte ein spannendes Buch werden können, beklagt sich Cornelia Vismann. Mit den beiden Autoren sei das nötige Potential gegeben: der eine schreibt aus der Perspektive des Verbrechensopfer, der andere kommentiert den rechtlichen Rahmen. Das Dilemma der Autoren umreißt Vismann wie folgt: Reemtsma und Hassemer seien sich der derzeitigen Konjunktur von Opfermitleid und verstärktem Sicherheitsbedürfnis durchaus im Klaren und wollten nicht einer Strafverschärfung das Wort reden. Denn im Grunde seien sie sich darin einig, dass das geltende Gesetz einen relativ guten Opferschutz biete. Wenn aber die Rechtslage so gut sei, fragt Vismann, warum stimmten Reemtsma und Hassemer dann nicht einfach ein Loblied an? Weil es doch offensichtlich einen Widerspruch zwischen Opfer- und Juristenperspektive gebe, den offen auszutragen sich die beiden scheuen würden, kritisiert Vismann. Insofern wäre es vielleicht produktiver gewesen, meint Vismann, darüber zu diskutieren, warum denn ein Gericht keine therapeutische Anstalt sein könne, statt die Ängste und Forderungen der Opfer von vornherein auf "kriminalpolitisch korrekte Kategorien" zurechtzustutzen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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