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Seit Boris Moser seine Agentur für verworfene Ideen eröffnet hatte, war niemand anderes als er selbst durch die Eingangstür getreten. Nun stand diese Frau vor seinem Schreibtisch, Rebecca. Kastanienbraunes Haar fiel auf ihre Schultern, und ihre Augen leuchteten. Während Boris noch darüber sinnierte, ob ihre elegante Nase ihr einen evolutionären Vorteil einbrachte, sprach Rebecca ihn an. Schlagartig wurde Boris klar, dass er diese Frau nie wieder gehen lassen durfte. Und dann tat er etwas, das er sonst unter allen Umständen vermieden hätte: Er erzählte ihr von einem verworfenen Romananfang. Er…mehr

Produktbeschreibung
Seit Boris Moser seine Agentur für verworfene Ideen eröffnet hatte, war niemand anderes als er selbst durch die Eingangstür getreten. Nun stand diese Frau vor seinem Schreibtisch, Rebecca. Kastanienbraunes Haar fiel auf ihre Schultern, und ihre Augen leuchteten. Während Boris noch darüber sinnierte, ob ihre elegante Nase ihr einen evolutionären Vorteil einbrachte, sprach Rebecca ihn an. Schlagartig wurde Boris klar, dass er diese Frau nie wieder gehen lassen durfte. Und dann tat er etwas, das er sonst unter allen Umständen vermieden hätte: Er erzählte ihr von einem verworfenen Romananfang. Er erzählte ihr von Sophia, die für ihren Auftraggeber eine Geschichte aufschrieb. Sie handelte von dem Wissenschaftler Heiner, der kurz davor stand, den Sinn des Lebens zu ergründen.
Autorenporträt
Jakob Hein, geb. 1971 in Leipzig. 1977 hat er die ersten Geschichten geschrieben und seiner Mutter vorgelesen. Seine erste Regiearbeit wurde 1982 beim 'Fest der jungen Talente' mit einer Urkunde ausgezeichnet. 1988 entdeckte er die Möglichkeit, seine Geschichten auch anderen Leuten als seiner Mutter vorzulesen. Das macht er jetzt jeden Sonntag in der Reformbühne 'Heim und Welt' im Berliner 'Kaffee Burger'. Jedes Frühjahr moderiert er die 'Lesershow' im Roten Salon in der Volksbühne. In Wirklichkeit ist er Arzt an der Berliner Charite.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.09.2008

Vom Landen im Müll

Willkommen in der Agentur für verworfene Ideen: Jakob Hein lässt seinen faustischen Romanhelden Boris Moser an der Informationsfülle der Moderne verzweifeln.

Was soll ich anstellen mit meinen Jahren zwischen Wiege und Grab?" Das ist eine gute Frage, über die Jakob Hein sicher nachgedacht hat, bevor er sich ein Leben als Oberarzt an der Berliner Charité ausgesucht hat und dann noch eines als Schriftsteller. Als solcher geht er sonntagabends ins Kaffee Burger, um dort Texte zu präsentieren. Er ist Mitglied der Reformbühne Heim & Welt und schreibt auf, was er erlebt hat - in seiner Ost-Berliner Jugendzeit, in Amerika, bei dem Verlust seiner Mutter. Vor vier Jahren veröffentlichte er ein unsentimentales Familienporträt, das auch den berühmten Vater Christoph Hein am Schreibtisch zeigt.

Der Sohn besitzt einen zarten, manchmal scharfen, oft komischen Blick auf die Wirklichkeit, und der besticht auch in seinen Romanen. Die Geschichte eines arbeitslosen Briefträgers, der sich dem Nichtstun verschreibt, "Herr Jensen steigt aus", hat unlängst eine große Leserschaft überzeugt. Für sein neues Buch hat Jakob Hein ein umtriebigeres Personal gewählt, aber auch dieses stellt sich die Frage: "Was soll ich anstellen mit meinen Jahren zwischen Wiege und Grab?" Eine vorläufige Antwort findet Boris Moser, der Protagonist der ersten Erzählebene dieser mehrfach verschachtelten Geschichte. Er eröffnet eine "Agentur für verworfene Ideen" und archiviert abgebrochene Gedankensplitter in der Hoffnung, diese später wiederzuverwenden. Viel hat er damit nicht zu tun, und so reagiert er erfreut, als eine schöne Frau sich auf seinem Besuchersessel niederlässt. Ihr erzählt er auch von seiner Sammlung aussortierter Romananfänge unter steter Beteuerung, kein Schriftsteller werden zu wollen. Das Gespräch bietet Anlass für flapsige Bemerkungen: Man solle die Menschheit doch um Himmels Willen nicht am Wegwerfen beschriebenen Papiers hindern! Aber da rutschen wir bereits in die zweite Erzählebene, denn der inzwischen verliebte Ideensammler gibt einen seiner Romananfänge preis.

In der nun erzählten Geschichte sitzt ein Arzt des Nachts am Bett einer Komapatientin. Auch der junge Mediziner fragt sich, ob er das richtige Leben führt und was er eigentlich will. Mitten hinein in seine müden, zwischen komischen Krankenhausszenen und Verzweiflung taumelnden Gedanken meldet sich die Stimme der bewusstlosen Frau. Mit ihr bekommt das bis dahin schon verspielte Buch eine phantastische Note. Denn die leblose Frau erläutert dem behandelnden Arzt die Gründe ihres Zusammenbruchs. Sie kann die Hoffnungen, Träume und Gedanken der Menschen lesen, und das ist kein Spaß. Sophia nennt sich eine "blütenweiße Leinwand in Menschengestalt", die jedem das zeigt, was er gerne hätte. Eingestreute Kurzbiographien beglaubigen das. Warum aber wird ausgerechnet diese zuvorkommende Person als "gefallener Engel" bezeichnet? Ein klassischer Gottesbote würde den Leuten wohl den Weg zum Heil weisen. Hier werden ihnen nur die unerfüllten Wünsche gezeigt.

Jakob Hein lässt den überforderten Engel aus seinem Leben erzählen. In jeder Geschichte steckt eine neue Geschichte - das Prinzip der russischen Puppe, aus der sich immer kleinere Püppchen hervorzaubern lassen, wie Hein überhaupt das Zaubern mit ähnlichen Figuren und Motiven liebt. Wir sehen also Sophia als Sekretärin im Haus eines alten, blinden, missgelaunten Schriftstellers. Abgesehen davon, dass sich die Reflexionen über das Schreiben hier fortsetzen, nutzt Hein den Monolog dieses Misanthropen, um eine seiner Stärken auszuspielen: das Karikieren großer und kleiner Verirrungen des modernen Mitteleuropäers. Seine Reiselust erscheint komisch verzerrt. Der gegenwartsdiagnostische Blick trifft aber auch den rituellen Eifer bei der Zubereitung von Kaffee oder Tee. Nur das Leiden am Informationsüberfluss geht über die rein satirische Darstellung hinaus. Es ist dem Autor kulturkritischer Ernst und eine neue Erzählebene wert.

Nummer vier und harter Kern des Buches ist das Manuskript des alten Mannes, in welchem er die Beschleunigung der Welt mit Goethe "veluziferisch" nennt. Die Hinweise verdichten sich, dass hier mit einem großen, bereits von einigen Vorgängern bearbeiteten Stoff gespielt wird - natürlich vielfach gebrochen, ironisch und gut postmodern. Alles andere wäre ja auch schlichter Wahnsinn oder blanke Provokation. So wie beim Quasi-Namensvetter Heine, der laut eigener Überlieferung bei seinem einzigen Besuch in Weimar auf Goethes Frage, woran er denn arbeite, geantwortet haben will: "An einem Faust." Auch Hein entwirft einen melancholischen Wissenschaftler, der sich fragt, was er mit seinem Leben anfangen soll, einen Nachtarbeiter, der es sich zum Ziel gesetzt hat, aus den wichtigsten Büchern der Menschheit ein Mosaik zusammenzusetzen, das die bisherigen Erkenntnisse zu einem Ganzen fügt. Es fehlt nicht mehr viel, nur die tägliche Menge an Mails hindert ihn noch daran, den Lebenssinn zu erfassen. Das ruft einen mysteriösen Mann auf den Plan, den prominentesten der gefallenen Engel. Er macht ein mephistophelisches Angebot.

So locker und witzig Jakob Hein mit dem übermächtigen Bezugstext umgeht, so ernst nimmt er die Erkenntnis: Uns bleibt nichts als das ewige Suchen und Streben.

SANDRA KERSCHBAUMER

Jakob Hein: "Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht". Roman. Piper Verlag, München 2008. 175 S., geb., 16,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensentin Sandra Kerschbaumer lässt sich vom "scharfen, oft komischen Blick" in den Bann ziehen, den Jakob Hein, Oberarzt, Schriftsteller und Sohn von Christoph Hein, in seinem verschachtelt konstruierten Roman auf die Realität wirft. Boris Moser, Hauptfigur einer ersten Erzählebene, betreibt eine "Agentur für verworfene Ideen" und laboriert, wie alle anderen Protagonisten des Romans übrigens auch, an der existentiellen Frage, wie man sein Leben leben sollte, lesen wir. Diese Frage zieht sich auch durch die Erzählung einer bewusstlosen Frau, die unter der Last fremder Gedanken und Hoffnungen schier zusammengebrochen ist, und eines blinden unfrohen Schriftstellers, beides Protagonisten weiterer Erzählebenen, bemerkt Kerschbaumer bei ihrer Rekapitulation der komplexen Handlung. Dabei offenbart der Autor sein Talent, die Befindlichkeiten und Spleens des "modernen Mitteleuropäers" zu karikieren, so die Rezensentin amüsiert. Aber auch eine gehörige Portion Kulturkritik, insbesondere Kritik an der Informationsflut, der der moderne Mensch ausgesetzt ist, sei Hein so wichtig, dass er dafür noch eine weitere - die vierte - Erzählebene einziehe, in der er nichts Geringeres als den Faust-Stoff aufgreife. Dies selbstredend "ironisch und gut postmodern", was wegen des locker-komischen Tons bei allem Ernst, mit dem sich Hein dieses gewichtigen Themas annimmt, auch amüsant zu lesen ist, wie Kerschbaumer beteuert.

© Perlentaucher Medien GmbH
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