Die traurige Geschichte eines kleinen Mädchens. Erzählkunst vom Allerfeinsten!
Sie wird „Trutschel“ genannt. Von ihrer Großmutter, ihrem Großvater, ihrer Mutter. Ein kleines Mädchen, das die Mutter am liebsten abgetrieben hätte, und es der neunjährigen auch ins Gesicht sagt. Ein Kind, das für
alles, was schief läuft, was im Leben ihrer Verwandtschaft nicht passt, schuldig gemacht wird. Die…mehrDie traurige Geschichte eines kleinen Mädchens. Erzählkunst vom Allerfeinsten!
Sie wird „Trutschel“ genannt. Von ihrer Großmutter, ihrem Großvater, ihrer Mutter. Ein kleines Mädchen, das die Mutter am liebsten abgetrieben hätte, und es der neunjährigen auch ins Gesicht sagt. Ein Kind, das für alles, was schief läuft, was im Leben ihrer Verwandtschaft nicht passt, schuldig gemacht wird. Die einzige Flucht des Kindes: die Schule. Aber wehe ein Wort! Nichts, absolut nichts darf sie sagen. Kein Wort darüber, was zu Hause passiert. Lehrerin und Schulpsychologin haben ein Auge auf die Ich-Erzählerin. Sie erzählt alles in Rückblenden als erwachsene Frau. So, wie es damals war, an was sie sich erinnern kann. Vor allem an eines: Es wird in dem Haus gestritten und geschrien, was das Zeug hält.
Gleich hinter dem Haus beginnt der Wald. Mit seinem Duft nach Moos, Tannen und Harz. Er ist dunkel, tausende Schauermärchen erzählt die Oma dem Kind. Dass dort kleine Mädchen verschwinden, und schlimmeres. Ihr Opa, der sich fast nur in seiner Werkstatt aufhaltet, riecht danach (geniale Titelgebung). Sie mag ihn nicht. Und auch sie ist nur ein geduldetes, lästiges Anhängsel.
S.68: „In der Gegenwart von Oma war ich ein undankbares, verbittertes Mädchen, für Opa war ich ein Angsthase, für Mama eine Tochter, die ihr eine Last war.“
Mit ihrer imaginären Freundin Monika verkriecht sie sich in eine Ecke in ihrem Zimmer, liest Monika aus Büchern vor. Sofern sie in ihr Zimmer darf, und es Oma erlaubt, denn Mama ist selten daheim. Ihr Papa ist eines Tages verschwunden und ward nie mehr gesehen. Er hat ihr zumindest zur guten Nacht eine Geschichte vorgelesen. Irgendwann verschwindet auch ihre Mutter. Macht sich auf und davon und lässt das arme Kind bei ihren Großeltern zurück. Sie vermisst beide … und dann tauchen zwei Jungen auf. Ihre Schulfreundin Ester wird neugierig, sie tuscheln, und das Mädchen verrät Ester etwas … etwas, worüber sie besser geschwiegen hätte … denn so manche ungute Dinge nehmen ihren Lauf. Und das eingeschüchterte Kind kann sich nicht wehren oder ausdrücken. Sie ist eben nur neun Jahre alt, und sehr ängstlich.
S.175: „Die Fragen kamen wie Gewehrsalven, aber ich saß da wie festgefroren und weinte. Ich schwieg, nicht einmal nicken konnte ich. Ich hatte Angst, solche Angst. Alles, was ich fühlte war Angst und vor allem: Hass. Ich hasste mich selbst und war voller Wut. Ich hasste die Frau, die mir gegenübersaß, wegen der schrecklichen Gefühle, die sie mit ihren Fragen in mir auslöste.“
Die Jahre vergehen, sie wird selbständig, kann den Krallen des Hauses am Wald entfliehen, aber die Vergangenheit holt sie dennoch wieder ein. Und wie alles ausgeht, wird hier natürlich nicht verraten.
Das Buch ist äußerst atmosphärisch geschrieben, beinahe schon beängstigend real. Die handelnden Erwachsenen würde man am liebsten aus den Seiten herauszerren … man leidet mit der Kleinen mit. Fühlt und zittert. Auch die Sprache finde ich sehr genial. Einerseits erzählt die Geschichte die erwachsene Frau, einerseits richtet aber die Neunjährige das Wort an uns. Genial kombiniert, wunderbar in Sprache verpackt.
S.54: „Manchmal, wenn im Winter Schnee fiel, bedeckte er die Traurigkeit der gefallenen Blätter und verhüllte die Nacktheit der Bäume.“
Und so allmählich erahnen wir beim Lesen, was dem Kind tatsächlich passiert ist. Es wird nicht ausgesprochen, nur in Schemen angedeutet. Und dennoch wird klar, was es mit dem Wald und der ganzen Familie auf sich hat.
Von mir eine ganz große Leseempfehlung und ein Jahreslesehighlight . Lest das Buch, ihr könnt es nicht mehr weglegen. Es vereinnahmt, fesselt. Die Geschichte ist einfach wunderbar erzählt und könnte wahr sein.