Das Tagebuch von Mary Berg wurde in Amerika vor Ende des Zweiten Weltkriegs veröffentlicht und war der erste Augenzeugenbericht über das Leben im Warschauer Ghetto. Es beschreibt eindringlich den vergeblichen Versuch, sich möglichst lange einen normalen Alltag aufrechtzuerhalten, in den aber nach und nach Hunger, Krankheit und Tod Einzug hielten. Es dokumentiert, wie die Nazis 1942 die »Große Aktion« starteten, die zur schrittweisen Auflösung des Ghettos führte, und wie die ersten Berichte über Deportationen ins Vernichtungslager Treblinka die zurückgebliebenen Bewohner erschütterten. Es schildert die Gewissenbisse von Mary Berg, die 1943, kurz vor dem blutigen Aufstand im Warschauer Ghetto, mit ihren Eltern und der jüngeren Schwester fliehen kann, aber Freunde und Familienangehörige zurücklassen muss.
Mary Berg gelingt es, die 12 kleinen Notizblöcke 1944 nach Amerika zu schmuggeln. Ihr Tagebuch gewährt dem Leser einen zutiefst persönlichen Einblick in den Holocaust und die Schuldgefühle einer Überlebenden. Ein erschütterndes Zeitdokument - erstmals in deutschsprachiger Buchfassung.
Mary Berg gelingt es, die 12 kleinen Notizblöcke 1944 nach Amerika zu schmuggeln. Ihr Tagebuch gewährt dem Leser einen zutiefst persönlichen Einblick in den Holocaust und die Schuldgefühle einer Überlebenden. Ein erschütterndes Zeitdokument - erstmals in deutschsprachiger Buchfassung.
Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Rezensentin Marie Wildermann annonciert ein "einzigartiges" historisches Dokument mit diesem Tagebuch der polnischen Jüdin Mary Berg, das nun 74 Jahre nach der englischen Edition erstmals auf Deutsch vorliegt. Die Kritikerin liest in den Tagebüchern des zu Beginn der Niederschrift 15 Jahre alten Mädchens, wie sie mit ihrer Familie von Lodz ins Warschauer Ghetto gebracht wurde, dort noch Revue-Abende mit Jazzliedern organisierte, auch als längst Panik, Verzweiflung und Hungersnot den Alltag bestimmten. Wie Mary und ihrer Familie wie durch ein Wunder im Jahre 1942 die Flucht in die USA gelang, liest Wildermann hier ebenfalls.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Die erste deutsche Ausgabe von Mary Bergs Tagebüchern aus dem Warschauer Getto
Bei der Literatur über den Holocaust sind im Augenblick zwei Entwicklungen zu beobachten, die sich auf den ersten Blick zu widersprechen scheinen: Zum einen werden immer mehr Texte von Autoren publiziert, die die Ereignisse nicht selbst erlebt haben und versuchen, dem Massenmord mit fiktionalen Mitteln beizukommen - Skandal oft inklusive. Zum anderen gibt es in der Wissenschaft, bei Verlagen und auch bei Lesern ein verstärktes Interesse an frühen Texten, die noch in unmittelbarer zeitlicher und oft auch räumlicher Nähe zu den Verbrechen entstanden. Offenbar ist es gerade ihre (vermeintliche) Unmittelbarkeit, die zu ihrer (Wieder-)Entdeckung führt. Gemeinsam scheint beiden Entwicklungen zu sein, dass man sie als Reaktionen auf das Ende der Ära der Zeitzeugen verstehen kann: Während die vielen Leser von Boyne, Morris, Iturbe oder auch Würger offenbar nach dem suchen, was man die (moralische, politische . . .) "Lehre" aus dem Holocaust nennen könnte, und dabei bisweilen auch vor Kitsch und historischer Ungenauigkeit nicht zurückschrecken, sind die Rezipienten von Texten aus den vierziger Jahren offenbar darauf aus, "Authentisches" über Gettos und Lager "aus erster Hand" zu erfahren. Beides war bislang im öffentlichen Diskurs Aufgabe der Zeitzeugen, die nicht nur aus persönlicher Sicht über den NS-Terror berichten und ihn in mehrfacher Hinsicht beglaubigen konnten, sondern die die geschilderten Ereignisse auch einordnen und mit Sinn für die Gegenwart aufladen.
Mütter wärmen ihre erfrorenen Kinder
Angesichts des beschriebenen Interesses an den frühen Texten war die Publikation der Tagebücher von Mary Berg (eigentlich Miriam Wattenberg) aus dem Warschauer Getto überfällig, gehören sie doch zu jenen Zeugnissen, die in den Vereinigten Staaten noch vor Kriegsende erschienen und dazu beitragen sollten, die Alliierten zu entschiedenerem Handeln gegen die Judenvernichtung zu animieren. Bergs Aufzeichnungen werden deshalb bis heute im englischsprachigen Raum breit rezipiert; in Deutschland sind sie jedoch bislang trotz einer frühen Übersetzung, die 1945 in der Exilzeitschrift "Aufbau" in Fortsetzungen erschien, nur wenig bekannt. Die nun bei Orell Füssli publizierte erste deutsche Buchausgabe basiert auf einer Edition, die die 2013 verstorbene amerikanische Literaturwissenschaftlerin Susan Pentlin erstmals 2006 vorlegte.
Mary Berg ist fünfzehn Jahre alt, als die Deutschen Polen überfallen. Mit ihrer Familie flieht sie aus ihrer Heimatstadt Lódz nach Warschau, in der Hoffnung, dass man in der Hauptstadt besser vor dem Terror der Deutschen geschützt sei. Doch da irrt sie sich gewaltig: Schon bald muss die junge Frau mit ansehen, wie die Juden in einem Viertel der Stadt zusammengepfercht und brutal isoliert werden. Mit wachem Blick nimmt sie die rasche Verelendung im Getto wahr und beschreibt Alltagsszenen, die die grauenhafte Lage nachdrücklich dokumentieren: "Auf den Straßen sind erfrorene Leichname ein zunehmend häufiger Anblick. In der Leszno-Straße sitzen vor dem Gerichtsgebäude viele Mütter mit Kindern, die in Lumpen gehüllt sind, aus denen rot gefrorene kleine Füße herausragen. Manchmal knuddelt eine Mutter ein erfrorenes Kind und versucht, den kleinen Körper noch zu wärmen. Manchmal kuschelt sich ein Kind an seine Mutter in dem Glauben, sie würde schlafen, und versucht, sie zu wecken, obwohl sie in Wahrheit schon tot ist."
Immer wieder muss sie mit ansehen, wie Menschen vom grassierenden Typhus dahingerafft werden oder einfach hungers sterben. Doch auch das Elend ist nicht für alle gleich: Die junge Diaristin, die selbst zu den bessergestellten Gettobewohnern zählt, nicht zuletzt weil ihre Mutter amerikanische Staatsbürgerin ist und deshalb einige Privilegien genießt, beobachtet auch diese tödlichen Ungerechtigkeiten messerscharf, selbst bei ihren Freunden. "Während ich mir anhörte, wie er sich lang und breit über den Luxus dieser Einrichtung ausließ, sah ich vor mir die obdachlosen nackten Kinder, die hungrig auf den staubigen Straßen liegen, die Kinder mit geschwollenen Bäuchen und verformten knochigen Beinchen." Wichtig ist ihr aber auch, den Widerstand der eingesperrten Menschen zu verzeichnen, der sich nicht nur im direkten Kampf gegen die Peiniger äußert, sondern auch in kultureller Selbstbehauptung: Berg selbst gehört einer Theatergruppe an, schreibt und zeichnet wie viele andere, nicht zuletzt, um das Erlittene zu dokumentieren. Im Juli 1942 wird die Familie dann wegen ihrer amerikanischen Staatsangehörigkeit ins Getto-Gefängnis verlegt, 1943 darf sie tatsächlich das Getto verlassen, weil die Nazis sie gegen deutsche Kriegsgefangene austauschen wollen. Noch vor Kriegsende gelangt Mary Berg nach Amerika, wohin sie auch ihr Tagebuch mitnehmen kann. Schon bald wird es auch ins Englische übersetzt, wird in Zeitungen veröffentlicht und findet schließlich einen Verlag und damit eine große Öffentlichkeit.
An welchen Stellen wurde der Originaltext verändert?
Doch Bergs Notate, die ursprünglich in einer Kurzschrift auf Polnisch verfasst waren, werden für die Publikation auch bearbeitet: "Kleine Änderungen" seien vorgenommen worden, schreibt der erste Herausgeber S.L. Schneiderman in seinem mit abgedruckten Vorwort, "wo es notwendig war, Details zu verdeutlichen, die andernfalls unverständlich geblieben wären." Auch Berg selbst überarbeitete ihre ursprünglichen Aufzeichnungen, ergänzte und verbesserte. Leider wurden diese späteren Eingriffe nicht verzeichnet, was umso bedauerlicher ist, weil das polnische Original nach der Publikation offenbar verlorenging und der jetzigen Ausgabe nur die erste englische Übersetzung zugrunde liegt, die wiederum ins Deutsche übertragen wurde. Auch Mary Berg hat sich nach dem Krieg bis zu ihrem Tod 2013 nicht mehr zu ihrem Manuskript oder ihrem Getto-Schicksal geäußert. Es wäre nicht nur deshalb gut gewesen, für die deutsche Ausgabe eine kritische editorische Durchsicht vorzunehmen, die noch einmal alle Übersetzungen von 1945 nebeneinanderlegt und auch Unstimmigkeiten kommentiert wie zum Beispiel die Fehldatierung mindestens eines Eintrags (29. Oktober 1941 - die dort beschriebenen Ereignisse fanden erst 1942 statt). Trotzdem: Mary Bergs Tagebuch-Erinnerungen sind auch in der jetzt vorliegenden Form ein enorm wichtiges Zeugnis für das Leben und Sterben im Warschauer Getto.
SASCHA FEUCHERT
Mary Berg: "Wann wird diese Hölle enden?" Das Tagebuch der Mary Berg. Hrsg. von Susan Pentlin.
Aus dem Englischen von Maria Zettner. Orell Füssli Verlag, Zürich 2019. 342 S., geb., 23,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»[...] ein enorm wichtiges Zeugnis für das Leben und Sterben im Warschauer Getto.«
FAZ
FAZ