Produktdetails
- Verlag: Verlag für Berlin-Brandenburg
- ISBN-13: 9783866500150
- ISBN-10: 3866500157
- Artikelnr.: 23396071
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Eine "privilegierte Mischehe" im Spiegel von Briefen
Als Irène Alenfeld 1994 bei der Auflösung der elterlichen Wohnung eine Tür am väterlichen Schreibtisch öffnete, fielen ihr Hunderte von Schriftstücken entgegen. Es waren vor allem Briefe, die sich ihre Eltern in den Zeiten temporärer Trennung während des Nationalsozialismus geschrieben hatten oder die sie von anderen Verwandten und Freunden in dieser Zeit erhalten hatten. In ihnen spiegeln sich die alltäglichen Sorgen derer, die aufgrund der jüdischen Herkunft Schritt um Schritt seit 1933 ausgegrenzt wurden und schließlich um ihr Leben bangen mussten. Allerdings ging es Familie Alenfeld im Vergleich zu unzähligen anderen noch verhältnismäßig gut: Da der jüdische Vater Erich mit Mutter Sabine eine "Arierin" geheiratet hatte und aus dieser Ehe zwei Kinder hervorgegangen waren, zählte das Paar zu den "privilegierten Mischehen", was zunächst vor mancher Drangsal schützte und unter anderem den Vater von der Pflicht entband, den Judenstern zu tragen. Als dieser Status keinen zuverlässigen Schutz mehr vor der Deportation gewährleistete, kam offenbar ein Freund mit guten Kontakten zu Hilfe.
Selbst finanziell war die ehemalige Bankiersfamilie nicht allzu schlecht gestellt, was es Frau und Kindern bis in den Sommer 1943 ermöglichte, sich in ausgiebigen Urlauben an der Ostsee zu erholen. Dem Überleben wird zudem die Bereitschaft zur Mimikry förderlich gewesen sein: Gerade in ihrer Freizeit erlagen die Kinder dem Wunsch, es allen anderen gleichzutun: So legte ausgerechnet der Sohn des diffamierten Juden als Pimpf übergroßen Eifer an den Tag, und auf Drängen der Kinder schenkte ihnen die Mutter im Sommerurlaub Hakenkreuzfähnchen, mit denen sie Strandkorb und Sandburgen verzierten. Doch dass für Juden in der nationalsozialistischen Gesellschaft kein Platz war, spürten sie schließlich allerorten. Als herauskam, dass Justus ein "Mischling" war, wurde er bei den Pimpfen verstoßen, und in den Sommerurlauben fehlte der Vater, da kein Hotel einem Juden Quartier gegeben hätte.
Dass die Eltern generell in Berlin bleiben wollten und auch an keiner der zitierten Briefstellen eine Ausreise ernsthaft in Erwägung gezogen wurde, veranlasste die Autorin zu ihrer im Titel aufgeworfenen und leitmotivisch immer wiederholten Frage: Warum seid ihr nicht ausgewandert? Letztlich findet sie auf diese Frage ebenso wenig Antwort wie auf die zahlreichen anderen von ihr gestellten. Diese machen deutlich, was das Buch in allererster Linie ist: die persönliche Sinnsuche einer Betroffenen. Fragen, die mit den Angehörigen zu deren Lebzeiten nicht geklärt werden konnten, werden nun an den Nachlass gestellt. Verkauft wird dies als "Oral History in Briefen". Diese begriffliche Unschärfe verrät einiges über das Buch, das eine Mischung aus Literatur und Wissenschaft sein möchte - und weder das eine noch das andere ist. Auch formal bleiben Zweifel, da sie den Anmerkungsapparat nur für wenig hilfreiche biographische Details nutzt.
Insofern dominiert ein ambivalenter Eindruck von dem Werk, das grundsätzlich insofern zu begrüßen ist, als es die Palette der Egodokumente aus Opferperspektive erweitert. Dabei scheint die Autorin selbst ambivalente Gefühle gegenüber dem Briefkorpus zu hegen, weshalb sie ihren Fund immer wieder als "Büchse der Pandora" bezeichnet. Was ihr Unbehagen bereitet, ist für den Historiker interessant, wenn auch nicht neu. So zeigt sie sich unangenehm berührt von dem nationalkonservativen Gedankengut ihres Vaters, das aus so vielen Briefen strömt. Anfang 1933 ging ihr Vater noch so weit, bei Hitlers Reichstagsreden "einen großen Teil ruhigen Herzens unterschreiben" zu wollen. Später reduzierten sich seine politischen Positionierungen auf die Beschwörung "der Pflichterfüllung, der Tradition, der Vaterlandsliebe". Sie erkennt, dass in dieser patriotischen Fixierung ein Schlüssel zur Klärung ihrer Ausgangsfrage liegt, ist aber nicht in der Lage nachzuvollziehen, welche Bedeutung für den jüdischstämmigen Vater die Integration in die nationale Wehrgemeinschaft von 1914 und die Auszeichnung mit dem Eisernen Kreuz besaßen. Unter allen demütigenden Herabsetzungen litt er besonders darunter, nicht zur Armee zugelassen und kaum noch von alten Kameraden gegrüßt zu werden. Dabei hatte er seine Frau schon auf eine freiwillige Meldung mit den Worten vorbereitet: "Ich will in Ehren leben und sterben und Dir und den Kindern die Schmach nehmen, die auf mir ruht." Doch Eltern und Kinder hatten unvergleichliches Glück. Sie blieben von Deportation verschont und überlebten den Bombenhagel.
BIRGIT ASCHMANN
Irène Alenfeld: Warum seid ihr nicht ausgewandert? Überleben in Berlin 1933-1945. Verlag für Berlin-Brandenburg, Berlin 2008. 480 S., 24,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Einen zwiespältigen Eindruck hat Irene Alenfelds Buch "Warum seid ihr nicht ausgewandert?" bei Rezensentin Birgit Aschmann hinterlassen. Sie berichtet, dass die Autorin bei der Auflösung der elterlichen Wohnung zahlreiche Briefe gefunden hat, die sich ihre Eltern, ihr jüdische Vater Erich und ihre "arische" Mutter Sabine während des Nationalsozialismus geschrieben haben. Als Sammlung dieser Briefe, die das Leben in einer "privilegierten Mischehe" in Berlin zwischen 1933 und 1945 dokumentieren, begrüßt sie das Buch ausdrücklich. Die Fragen, die die Autorin angesichts dieser Briefe aufwirft, verdeutlichen für Aschmann allerdings, dass es sich bei dem Buch in erster Linie um "die persönliche Sinnsuche einer Betroffenen" handelt. Sie hält fest, dass Alenfeld ihr Buch als "Mischung aus Literatur und Wissenschaft" verstanden wissen möchte. Ihr scheint es allerdings weder das eine noch das andere zu sein.
© Perlentaucher Medien GmbH
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