Anders leben, jetzt, nicht irgendwann! Der große Aufbruch in den 70er Jahren lässt sich nirgends besser nachlesen als in den Kleinanzeigen von damals: ungespritzte Äpfel, Therapiegruppen, Grüße, Kritik, Gibson Les Paul, Kontakte - hier stellt sich dieSzene selbst dar, und zwar auf kleinstem Raum. Diese Kleinanzeigen erzählen großartige Geschichten aus dem ganz normalen Leben und haben eine umwerfende Komik. Damals war natürlich alles ernst gemeint: "Mich würde interessieren, was aus der Hodenwärmer-Clique geworden ist. Wahrscheinlich ist bei der Aktion ja gar nichts rausgekommen. Und warum? Weil Männer immer so theoretisch, abstrakt und wissenschaftlich usw. denken (wollen)." Ja, was ist bloß aus der Hodenwärmer-Clique geworden? Was aus der Männergruppe, die "Frauen zum nachts Nacktbaden" gesucht hat? Fragen, die leider offen bleiben müssen. Aber wunderbar kommentiert werden durch Gerhard Seyfrieds Zeichnungen.
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Gut amüsiert hat sich Rezensent Burkhard Strassmann bei der Lektüre von Franz-Maria Sonners Buch "Werktätiger sucht üppige Partnerin", das die siebziger Jahre auf eine etwas andere Weise spiegelt - in Hunderten von Kleinanzeigen aus der zwischen 1973 und 1984 erschienenen Szenepostille "Blatt", dem Vorbild vieler "Stadtzeitungen". Den Anzeigenteil des Zweiwochenblatts beschreibt Strassmann als "eine Art Börse" für die undogmatische Linke Münchens, als "Marktplatz der Ratlosigkeit", "Selbstverständigungsmedium in wirren Zeiten" und Kontakthof: Bleikristallkugeln werden da gesucht, Schwarzfahrer-Versicherungen, Kefir-Pilze oder Hodenwärmer angeboten, Orgien und Orgasmusschulungen erfragt. Sonners Einschätzung, die komische Wirkung dieser Kleinanzeigen habe mit der historische Verfremdung zu tun, die Entfernung vom damaligen Lebensstil führe zum "Schillern der Haltungen und Gesten", findet dabei durchaus Strassmanns Zustimmung.
© Perlentaucher Medien GmbH
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