Alfred Grossers unvergleichliche Kenntnis der französischen Politik und ihrer Akteure, sein klarer Stil und seine scharfsinnig-pointierten Analysen machen diesen schmalen Band zu einer brillanten Einführung in die politische Kultur unseres Nachbarn am Rhein.
Alfred Grosser, der im Februar 2005 seinen 80. Geburtstag feiert, verkörpert wie kein anderer Intellektueller einen neuen Anfang in den deutsch-französischen Beziehungen nach 1945. Seit seinen frühen Publikationen hat sich der Friedenspreisträger unermüdlich darum bemüht, Franzosen und Deutsche einander näherzubringen und Gemeinsamkeiten und Unterschiede der jeweiligen politischen Kultur aufzuzeigen.
2002 erschien sein vielbeachteter Band Wie anders sind die Deutschen?, in dem er die Berliner Republik und ihre Bürger aus der Perspektive Frankreichs in den Blick nahm. Nun folgt mit seinem neuen Buch der Blick auf Frankreich, dessen Politik für uns oft so unübersichtlich oder gar unverständlich ist. Grosser beschreibt anschaulich das immer noch nachwirkende Erbe der revolutionären Vergangenheit, die komplexen Mechanismen des politischen Systems, die Strukturen der französischen Gesellschaft, die besondere Rolle der Kultur und Frankreichs Position in Europa und der Welt.
Alfred Grosser, der im Februar 2005 seinen 80. Geburtstag feiert, verkörpert wie kein anderer Intellektueller einen neuen Anfang in den deutsch-französischen Beziehungen nach 1945. Seit seinen frühen Publikationen hat sich der Friedenspreisträger unermüdlich darum bemüht, Franzosen und Deutsche einander näherzubringen und Gemeinsamkeiten und Unterschiede der jeweiligen politischen Kultur aufzuzeigen.
2002 erschien sein vielbeachteter Band Wie anders sind die Deutschen?, in dem er die Berliner Republik und ihre Bürger aus der Perspektive Frankreichs in den Blick nahm. Nun folgt mit seinem neuen Buch der Blick auf Frankreich, dessen Politik für uns oft so unübersichtlich oder gar unverständlich ist. Grosser beschreibt anschaulich das immer noch nachwirkende Erbe der revolutionären Vergangenheit, die komplexen Mechanismen des politischen Systems, die Strukturen der französischen Gesellschaft, die besondere Rolle der Kultur und Frankreichs Position in Europa und der Welt.
Alfred Grossers Einsichten über Frankreich und dessen Rolle
Alfred Grosser: Wie anders ist Frankreich? Verlag C. H. Beck, München 2005. 240 Seiten, 19,90 [Euro].
Anders, erheblich anders - ist der Zeitgenosse geneigt zu antworten, wenn er an die entschiedene Ablehnung des EU-Verfassungsvertrages durch den französischen Wähler im Mai dieses Jahres denkt. Dies ist jedoch nicht das Thema von Alfred Grosser, des Altmeisters der historisch-politischen Aufklärung. Als sein Buch entstand, war das Debakel des Plebiszits noch nicht auf der Tagesordnung, aber Grosser war die Problematik durchaus bewußt, denn er warnte: Ob die EU-Verfassung "je in Kraft treten wird, ist ungewiß".
Das Buch will nicht das Land mit anderen vergleichen. Primär geht es dem Autor um Frankreich. Er spannt einen weiten Bogen von einer sehr differenzierten Abhandlung zur Geschichte über die Darstellung des Regierungssystems, der Gesellschaft und Kultur bis zur Rolle Frankreichs in Europa und der Welt.
Alfred Grosser schreibt nun schon seit fünfzig Jahren über Frankreich und Deutschland. Manches ist dabei in der Wiederholung zur Legende geronnen, etwa die Geschichte von der tiefen persönlichen Verbundenheit zwischen Robert Schuman und Konrad Adenauer und dem Beginn der europäischen Einigung. Tatsächlich waren die Verhältnisse komplizierter. Ohne den Einfluß der amerikanischen Regierung hätte es nie eine europäische Einigung gegeben. Ähnlich verhält es sich mit seiner These, "daß die Bundesrepublik nicht im Namen der Nation entstanden ist, sondern als geistig-ethisches Gegenstück zum Nationalsozialismus". Letzteres traf mit Sicherheit nicht zu.
Nur Zustimmung finden kann die Kritik an der Art, wie die Deutschen mit ihrer Geschichte umgehen: "Die dumme Behauptung, Hitler sei gewissermaßen die Krone des Baumes der deutschen Geschichte gewesen und nicht nur ein dicker Ast unter anderen, hat die deutsche Öffentlichkeit dazu geführt, den ganzen Stamm samt den Wurzeln zu fällen." An anderer Stelle spricht er sogar davon, daß die Auseinandersetzung um die nationalsozialistischen Verbrechen "oft masochistische Züge annimmt". Die Franzosen dagegen haben ein viel engeres Verhältnis zu ihrer Geschichte, sie leben in ihr, sind doch viele staatliche Einrichtungen in der Revolution oder unter Napoleon entstanden. Ganz selbstverständlich sei es, daß die Schulkinder "einen Anspruch darauf haben, stolz auf die Vergangenheit ihres Landes zu sein". Und man kann die Verwirrung durch den Hinweis noch steigern, daß die Lehrer, die mit republikanischem Pathos diesen Anspruch einlösen, überwiegend nach links neigen.
Das hindert jedoch noch immer einen Großteil der Lehrer nicht daran, an der "autoritären, aber aufgeschlossenen Pädagogik ihrer Vorgänger festzuhalten". Das ist eine für Deutsche geradezu unwirkliche Erscheinung. Der Eindruck der Fremdartigkeit verstärkt sich noch, wenn man an anderer Stelle liest, welche Bedeutung Diktate nicht nur im Unterricht haben, sondern auch als das ganze Lande erfassender, vom Fernsehen übertragener Wettbewerb, an dem Hunderttausende teilnehmen. Kann man sich das in Deutschland vorstellen, wo das Diktat das Haßobjekt der Gesamtschulideologen darstellt? Bei diesem wachen Sinn für die Hochsprache kann es nicht überraschen, daß der "schier endlose Kampf" um die Rechtschreibreform "von Frankreich aus unverständlich ist".
Für einen Bundesbürger, für den das Grundgesetz das Maß aller Dinge ist und der geneigt ist, darauf sogar seinen Patriotismus zu gründen, ist die französische Grundeinstellung zum Staat eher abschreckend. Da gibt es keine Konsensdemokratie, sondern der Staat ist durch Macht bestimmt - le pouvoir -, und seine Machthaber, so die in Jahrhunderten gebildete Überzeugung der Franzosen, nutzen ihren Einfluß zum eigenen Vorteil. Der Rechtsstaat erscheint recht lückenhaft. Der Leser lernt mit leichter Befremdung, daß die französische Nationalversammlung zwar Gesetze verabschiedet, die aber wirkungslos bleiben, weil die Ausführungsdekrete nicht erscheinen. Parteien haben kein traditionsreiches Eigenleben, sondern werden von Politikern zu ihrer eigenen Unterstützung gegründet. Sie können aber ebenso schnell wieder verschwinden, wie sie entstanden sind.
Mit der Wirtschaft tut sich Grosser schwer. Er will an dem französischen Modell mit seinem starken Staatsanteil festhalten und zeigt wenig Sympathie für die Marktwirtschaft. Die Planwirtschaft à la française verklärt er als Mittel zur Organisierung der Zusammenarbeit. Einigermaßen hilflos klingt sein Vorschlag, die Aufsichtsratstantiemen in eine Stiftung für die verbesserte Ausbildung von Sozialarbeitern einzubringen. Das weite Feld von Bildung und Kultur betrachtete Grosser unter verschiedenen Aspekten. Wie bei seinem souveränen Abriß zur Zeitgeschichte wird auch hier ein ungemein kenntnisreicher, klug abwägender Überblick geboten, wie man ihn - so knapp und gehaltvoll - schwerlich an anderer Stelle findet. Er mokiert sich über die Empfindlichkeit, mit der eine Institution wie "Le Monde" ("wo das politische Milieu mit sich selbst verkehrt") reagiere, wenn jemand auch die "ziemlich systematische Hinterhältigkeit" des Blattes aufzeige. Etwas bitterer verfährt er mit "der furchtbaren Vergangenheit intellektueller Kommunisten", deren Engagement jetzt als "Jugendsünde" verharmlost wird.
Für Grosser ist der Nationalstaat noch nicht überholt - schon gar nicht, wenn dessen Essenz mit den Formeln de Gaulles bestimmt wird - getreu dessen Motto: "Das Prestige selbst ist das Ziel." Von dieser hohen Warte aus erscheint Frankreich bis 1990 als "Vorgesetzter" der Bundesrepublik. Diese "durfte" 1949 überhaupt nur entstehen, weil die Siegermacht Frankreich im Jahr zuvor "dem amerikanischen Druck nachgegeben hatte". Dergleichen wirkt unfreiwillig komisch. Man sollte sich davon aber nicht irritieren lassen, denn insgesamt ist es ein Buch zu einem unerschöpflichen Thema, das viele erfrischende Einsichten und Anregungen vermittelt.
HENNING KÖHLER
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Michael Mönninger hat an Alfred Grossers Studie zu Frankreichs Selbstverständnis wenig auszusetzen. Verständlich stelle er die Widersprüche vor, mit denen Frankreich vor allem im vergangenen Jahrhundert zu kämpfen hatte und weist damit die "Mär" von der glücklicheren Geschichte des Landes weit zurück. Die Niederlage im Zweiten Weltkrieg sowie die Konflikte in Indochina und Algerien hätten ohne Präsident de Gaulle wahrscheinlich zur "Selbstzerfleischung" geführt. Im historischen Urteil sei Grosser allerdings "schärfer" als in der Offenlegung heutiger Schwächen. Mönninger vermisst eine Kritik des Präsidialsystems oder eine Behandlung des "längst überfälligen" Staatsumbaus. Diese Mängel fallen aber nicht so sehr ins Gewicht. Denn Grosser konzentriere sich auf die Helden des französischen Alltagslebens wie Grundschullehrer und Bürgermeister, wodurch man mehr über die individualistische Gemeinschaftsmoral der Franzosen bekommt "als durch jede Institutionenanalyse".
© Perlentaucher Medien GmbH
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